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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #22 - 13.01.2023

 

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

 

Wenn das Blut nicht richtig gerinnt

 

Axel Enninger: Heute spreche ich mit: PRIVATDOZENT DR. CHRISTOPH BIDLINGMAIER

 


DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gesprächspartner heute ist Privatdozent Dr. Christoph Bidlingmaier. Wir reden heute über Gerinnungsstörungen. Herr Dr. Bidlingmaier ist lange, lange tätig gewesen am Dr. von Haunerschen Kinderspital, hat da eine ganze Weile die Notaufnahme geleitet und sich immer schon mit Blutgerinnungsstörungen beschäftigt. Er ist seit dem Frühjahr 2022 niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in München. Herzlich willkommen, Herr Bidlingmaier!

Christoph Bidlingmaier: Herzlich willkommen und vielen Dank für die Einladung!

Axel Enninger: Ja, sehr gerne. Wir beschäftigen uns heute mit einem Thema, das glaube ich, vielen von uns ein bisschen auf der… ¬wie soll ich sagen… schwierig erscheint, weil man im Studium immer verschiedene Gerinnungskaskaden gelernt hat, sich damit zum Teil gequält hat. Und wenn man das nicht zu seiner Leidenschaft gemacht hat, es im Zweifelsfall immer wieder ganz schnell vergisst. Ging Ihnen nicht so, Sie fanden es toll, oder?

Christoph Bidlingmaier: Nee, ich fand das im Studium auch furchtbar. Ich glaube, es waren zwei Seiten im „Herold“, auf denen man es lernen konnte und die habe ich nicht verstanden. Ich bin sehr, sehr zufällig in die Hämostaseologie gerutscht. Es ging darum, eine Stelle zu bekommen, und ich hätte Endokrinologe oder „Gerinnologe“ werden können und dann ging es halt so aus.

Axel Enninger: Okay, umso besser. Wenn Sie es nicht von Anfang an mit der Muttermilch aufgesogen haben, dann gelingt es Ihnen sicher noch umso deutlicher und klarer, den Zuhörerinnen und Zuhörern und auch mir zu erklären, was wir denn über Gerinnung wissen sollten. Wir haben uns im Vorfeld überlegt: ‚Wie machen wir es denn?‘ Und haben uns ein paar Fallbeispiele oder Fragen aus der Praxis überlegt und würden einfach mal starten mit dem Thema „präoperative Gerinnungsdiagnostik“. Also Janina soll die Mandeln rauskriegen und die Frage ist, hat sie eine Blutungsneigung? Wir alle haben gelernt, dass „Quick-“ und „PTT-Machen“ nicht reicht. Wir müssen irgendwie mehr und anderes machen. Was sollen wir denn tun?

Christoph Bidlingmaier: Ja, das ist tatsächlich spannend. Das mussten wir auch lernen, dass Quick und PTT nicht reicht. Als ich begonnen habe, war das der Standard. Dann war ständig die PTT verlängert bei den Kindern, weil sie ja Infekte haben. Das triggert verschiedene Antikörper und die machen dann lange PTTs [Anm. d. Red.: partielle Thromboplastinzeit]. Dann landeten sie bei mir als AIPler in der Gerinnungsambulanz, wo ich dann „Akupunkturkurse“ durchgeführt habe und versucht habe Blut abzunehmen. Viel besser wäre es gewesen, wenn wir uns vorher grundsätzlich immer überlegen, warum soll das Kind operiert werden und wie ist die Geschichte von dem Kind? Also, dass wir uns die Anamnese von dem Kind überlegen – und seiner Familie, wenn es ein kleines Kind ist.

Axel Enninger: Okay. Und wie wertvoll ist denn die Anamnese? Also klar, wir alle wissen – wir sind Kinder- und Jugendärzte – Anamnese ist immer Nummer 1, aber ich will ja am Ende auch vor dem Staatsanwalt gut dastehen, der sagt: ‚Na ja, irgendwie vorher ein bisschen reden und hinterher blutet der Patient nach der OP doch, ist ja vielleicht auch nicht ausreichend.‘

Christoph Bidlingmaier: Ja, wobei ich schon denke, dass es besser ist, ich habe vorher geredet, als dass ich mir nur eine neue, also eine normale PTT in meine Unterlagen geschrieben habe, wie wir es auch erlebt haben. Weil die PTT normal war, hat man teilweise nicht mal auf die Blutung reagiert. Man hat heutzutage die Möglichkeit, auf standardisierte Fragebögen zurückzugreifen, die es in verschiedenen Sprachen des Erdballs gibt. Die kann man sich im Internet runterladen und damit kann man eigentlich mit den meisten Patienten ganz gut herausbekommen, ob es beim Kind oder in der Familie schon mal größere Blutungsprobleme gegeben hat.

Axel Enninger: Okay, diese Fragebögen bzw. Links dazu würden wir dann auch in unseren Shownotes hinterlegen, dass die jemand nachlesen kann. Und da lohnt es sich dann natürlich, diesen Fragebogen auch auszufüllen und ordentlich abzuheften in der Akte, damit man im Zweifelsfall sagen kann: ‚Ja, wir haben die Fragen gestellt.‘ Und jetzt noch eine Bemerkung für diejenigen, die sich vielleicht fragen: ‚Na ja, an welche Gerinnungsstörungen muss ich denn bei welcher Art von Blutung denken?‘ Da haben wir eine kleine Aufstellung gemacht und die finden Sie als Tabelle in den Shownotes und können die dort noch mal nachlesen.

Christoph Bidlingmaier: Genau. Und vor allem auch zu gucken, was wurde da angekreuzt, denn wenn ich einen Fragebogen habe, wo dann irgendwo ein Nein angekreuzt wurde, und ich reagiere nicht darauf – ist blöd. Das ist genauso, wie wenn ich eine PTT habe, und die ist verlängert und ich reagiere nicht darauf. Das ist auch blöd.

Axel Enninger: Okay. Also nehmen Sie doch mal irgendeine Frage aus dem Fragebogen. Da steht also, Familie… ‚Hat es schon mal nach einer großen Zahnextraktion besonders lange nachgeblutet?‘ Nehmen Sie mal eine Frage daraus und die Antwort ist ‚ja‘. Was ist dann die Konsequenz für den „Gerinnologen“?

Hinweise auf Gerinnungsstörung? Quick, PTT, Blutbild, Fibrinogen, von Willebrand, Faktor VIII und ggf. Faktor XIII
Christoph Bidlingmaier: Genau. Also ich gucke mir an, welche Frage wurde mit ‚ja‘ beantwortet. Bei Zähnen oder zum Beispiel bei den klassischen Kinderoperationen, die ja meist im Schleimhautbereich stattfinden, Mandel-OPs oder so etwas, wenn mir da jetzt die Mama mitteilt, dass das Geschwisterkind da geblutet hat, dann muss ich mich um das Kind, das vor mir sitzt, kümmern und auch bei diesem Blut abnehmen und zumindest die häufigen Gerinnungsstörungen abklären. Da genügt es eben nicht, sich nur mit Quick und PTT zu beschäftigen, sondern man nimmt dann neben dem Blutbild, womit man die Thrombozytenzahl hat, auch noch das Fibrinogen mit ab. Und das Wichtigste, das wir ausschließen müssen, weil es das Häufigste ist, ist das Von-Willebrand-Syndrom. Man kann sicher darüber streiten, wie häufig es ist. Früher habe ich immer gelernt 1:100. Klinisch relevant ist es dann doch wahrscheinlich seltener, aber das gibt es schon so oft, dass man es abnehmen sollte. Da kann man eigentlich auch bei den niedergelassenen Laboren ganz gut „Von-Willebrand-Syndrom-Antigen und -Aktivität“ ankreuzen. Dann nehme ich Faktor VIII immer noch mit ab und wenn er tatsächlich Schleimhautblutung hatte, dann macht es auch Sinn, einen Faktor XIII mit abzunehmen.

Axel Enninger: Okay, noch mal in der Reihenfolge. Also was nehme ich ab? Quick, PTT, Blutbild und weiter?

Christoph Bidlingmaier: Fibrinogen, Faktor VIII, Von-Willebrand-Faktoren und Faktor XIII, das ist schon das Minimum.

Axel Enninger: Das wäre das Minimum, wenn ich ein Ja auf dem vorhin schon besprochenen Fragebogen finde. Ja, das mache ich. Blut abnehmen ist schwierig. Sie haben auf Ihre AIP-Zeit verwiesen und ich nehme mal an, dass Sie mit der „Akupunktur“ meinten, dass Sie immer daneben gestochen haben als Jungdoktor, oder was war mit der Akupunktur-Bemerkung am Anfang gemeint?

Christoph Bidlingmaier: Ja, also das ist das eine. Genau. Man muss teilweise oft stechen. Dann schreien die Kinder, dann ist die Gerinnung im Übrigen aktiviert. Also, das ist auch ein Problem. Dann kriegt man nicht genug heraus, man melkt die Kinder förmlich und freut sich über jeden Tropfen, der es ins Gerinnungsröhrchen schafft und ist im höchsten Maße empört, wenn man von einem guten Labor die Rückmeldung bekommt, dass man leider aus dem halbvollen Gerinnungsröhrchen nun wirklich nichts bestimmen könnte. Aber das ist die Wahrheit. Also bevor man ein halbvolles Röhrchen einschickt, schickt man besser gar kein Röhrchen ein.

Axel Enninger: Okay, was heißt, wenn ich mich entscheide es zu machen, dann mache ich es richtig und nicht halb und nicht halbgar, sondern dann stehe ich nämlich vielleicht noch blöder da, wenn ich quasi auf dem Befund des Labors bestätigt bekommen habe, dass die Probe nicht auswertbar war. Spätestens dann muss man es entweder noch mal machen oder aber man muss sagen: ‚Halt, so können wir das Kind nicht zur OP schicken‘, oder?

Christoph Bidlingmaier: Ja, ja, es ist ja wie bei jeder Diagnostik. Ich muss mir halt überlegen, ob ich es wissen muss. Und wenn ich es wissen muss, dann muss es von der Präanalytik her passen und ich muss die richtigen Fragen mit der richtigen Methode beantworten. Und das geht halt mit halb vollen Gerinnungsröhrchen leider nicht. Da ist ein Verhältnis von Citrat zu Blut drin und wenn das nicht stimmt, dann stimmen die Werte nicht.
Axel Enninger: Okay. Ist das ein Job für den niedergelassenen Kinder- und Jugendarzt oder ist das ein Job für einen Spezialisten?

Christoph Bidlingmaier: Ich denke schon, dass man das inzwischen als niedergelassener Kinder- und Jugendarzt machen kann. Denn es ist ja so, dass wir zum einen inzwischen eine gute Vernetzung mit Laboratorien haben, die auch, wenn ich es möchte, mehr als einmal am Tag mir das Blut abholen könnten. Und zum anderen bieten die Laboratorien diese ganze Diagnostik in der Regel an. Es gibt ein paar Sonderfälle, die nicht angeboten werden, wie Thrombozytenfunktionsdiagnostik, aber diese Klassiker, mal einen plasmatischen Gerinnungsfaktor bestimmen zu lassen, wenn ich ihn aus der Familiengeschichte brauche, vielleicht auch mal einen Faktor IX oder mal einen Faktor XI oder auch den Faktor VII oder was auch immer. Das geht eigentlich sehr, sehr gut und das mache ich jetzt in der Praxis auch, also das funktioniert schon. Das sollte jetzt nicht 3 Tage bei mir in der Praxis liegen, bis es abgeholt wird, und meine Helferinnen sollten es bitte auch nicht in den Kühlschrank legen oder so. Aber wenn es innerhalb der nächsten paar Stunden abgeholt wird und vielleicht innerhalb von vier, fünf Stunden im Labor ist, dann ist das gut verwertbar.
OP-Indikation prüfen und den Eltern mitgeben, was danach zu tun ist
Axel Enninger: Okay. Jetzt hat die Mutter tatsächlich ein bisschen Sorge davor, weil es eben beim Geschwisterkind geblutet hat. Was sind noch Dinge, die Sie dieser Familie mit auf den Weg geben?

Christoph Bidlingmaier: Also einer der ganz wichtigen Punkte ist, dass man die Indikation zur OP diskutiert. Wir haben damals… Als ich angefangen habe, haben wir eine Studie dazu gemacht, was eigentlich aus unseren verlängerten PTTs geworden ist. Letztlich war das bei mir dann auch das Habil-Thema. Da haben wir festgestellt, dass in der Zeit, in der die Operateure auf meine Gerinnungswerte gewartet haben, fast die Hälfte der Kinder ihre OP-Indikation verloren haben. Also, wenn wir sie angerufen haben und gefragt haben, retrospektiv: ‚Was ist denn aus der OP geworden, hat es denn geblutet oder so?‘ Dann haben die meisten gesagt: ‚Ach, die haben wir jetzt doch nicht durchgeführt.‘ Also das ist natürlich das Sicherste, was man machen kann, einfach nicht zu operieren. Ansonsten, wenn man aber operieren muss, dann ist es wichtig, dass die Eltern wissen, was sie machen sollen, wenn es blutet. Viele Operationen, die man vor 20 Jahren noch gesichert stationär durchgeführt hat, werden als ambulante Operationen durchgeführt. Dann müssen die Eltern einfach wissen, was sie im Blutungsfall tun sollen, damit sie dann nicht von Klinik A zu B zu D weitergeschickt werden.

Axel Enninger: Okay. Sie brauchen einen Ansprechpartner. Sie müssen eine Notfall-Telefonnummer haben.

Christoph Bidlingmaier: Ja.

Axel Enninger: Und im Zweifelsfall, wenn da irgendetwas Vorbestehendes ist, müssen sie auch wissen, wie sie akut reagieren. Ja, das mit der Indikation finde ich ja spannend. Woran lag es denn? Also wenn man sagt, okay, da ist vielleicht ein bisschen irgendetwas mit der Gerinnung und dann muss man auf einmal eine OP doch nicht durchführen. Hatten die Chirurgen dann Angst oder woran lag es?

Christoph Bidlingmaier: Ich glaube, dass es sehr, sehr häufig damals noch HNO-Operationen waren. Wahrscheinlich wurden da noch mehr Adenotomien durchgeführt als man es vielleicht heute macht. Wenn die Kinder dann ein bisschen älter geworden sind, wenn statt Winter jetzt Sommer war, wenn die Infektwelle abgeklungen war, dann hat es sich für viele nicht mehr so klar gezeigt, dass man jetzt eine OP machen muss. Dann sind die Eltern vielleicht auch gar nicht hingegangen und im nächsten Jahr war es dann schon wieder besser und nicht mehr so viele Infekte usw. Wir müssen uns klarmachen, sehr viele Kinder wurden operiert, weil sie häufige Infekte hatten, mit der Hoffnung, die Situation dann zu verbessern. Weil sie oft Infekte hatten, war die PTT immer verlängert und deswegen sind sie dann alle bei uns aufgeschlagen. Bei uns hat die Diagnostik damals zwei Monate gedauert. Das hat dann so etwas verschoben.

Axel Enninger: Okay, aber da hilft ja durchaus der medizinische Fortschritt. Wir wissen, dass das bei Infektanfälligkeit nicht besonders gut hilft.

Christoph Bidlingmaier: Ja.

Axel Enninger: Insofern werden vielleicht auch die Fragebögen für OPs, die gar nicht unbedingt notwendig sind, vielleicht weniger werden. Wir bauen auf medizinischen Fortschritt und hoffen, dass es sich so entwickelt hat.

Christoph Bidlingmaier: Ja, durchaus.

Thromboseneigung bei Verwandten ersten Grades ist relevant
Axel Enninger: Okay, dann nehmen wir mal ein anderes, ganz praktisches Beispiel. Da kommt jetzt ein Mädchen, die ist 15 und Oma hatte eine Thrombose. Das Mädchen möchte eine Pille haben, „die Pille“ haben. Alle haben im Kopf, irgendetwas hat die Pille mit Thromboseneigung zu tun und Oma hatte jetzt eine Thrombose. Was macht Herr Bidlingmaier?

Christoph Bidlingmaier: Herr Bidlingmaier redet lange mit der 15-Jährigen und auch…

Axel Enninger: Warum sie überhaupt die Pille haben will oder wieso?

Christoph Bidlingmaier: Nee, ich kläre sie darüber auf, was wir da möglicherweise tun und ob das Sinn macht. Wenn jetzt die Oma zum Beispiel nur die Thrombose hat, dann sind wir ja schon sehr weit weg von dem Mädchen. Man müsste sich überlegen, wann hatte die Oma die Thrombose? Eigentlich müsste man sich überlegen, dass wenn die Oma die Thrombose hat, ist das schon mal für sich in aller Regel eh keine Indikation, bei dem Enkelkind dann eine Diagnostik zu machen. Wir suchen ja nach genetischen Erkrankungen und wenn überhaupt, würde ich fordern, dass wir dann die Mutter oder den Vater oder wer auch immer da in der Linie der Direkte ist, dass man den zuerst untersucht. Wenn die Oma das gar nicht an ihr Kind weitergegeben hat, dann hat das ja sicherlich nichts mit der Enkelin zu tun.

Axel Enninger: Dann verändern wir einfach den Fall. Dann hat jetzt die Mutter die Thrombose und die Mutter hatte die Thrombose, als sie 24 war.

Christoph Bidlingmaier: Dann würde ich schon sehr ausführlich mit dem Mädchen reden, einfach weil die Mutter ungewöhnlich früh eine Thrombose hatte in ihrem Leben. Das haben ja die meisten Menschen jetzt nicht unbedingt. Dann muss man sich erkundigen, was war denn da? War die Mutter da schwanger? Hat sie da die Pille genommen? Hat sie geraucht? Hat sie eine Sportverletzung gehabt? Das ist ja in dem Alter sehr, sehr häufig. War sie immobil oder so etwas? Bei sehr jungen Frauen, die eine Thrombose erlitten haben, sehen wir durchaus eine Indikation, auch mal die Töchter – wenn sie das denn möchten – zu untersuchen. Am besten, wenn vorher bei der Mutter, die ja die Thrombose hatte, auch die Diagnostik gelaufen ist, weil ich dann weiß, wonach ich suchen soll.
Diagnostik in jedem Fall? Es gibt ein Recht auf Nichtwissen
Axel Enninger: Okay, das heißt, es wäre in diesem Fall schlauer zu sagen: ‚Also dann klärt doch erst einmal, was mit Mama war, bevor wir jetzt dem Kind viel Blut abnehmen und vielleicht teure und komplizierte Diagnostik machen.

Christoph Bidlingmaier: Genau, das wäre sicherlich die schlauste Geschichte, wobei mich persönlich das mit dem „teuer“ nur so… also es betrifft mich natürlich schon, aber das ist nicht so sehr mein Problem. Das Problem ist, dass ich möglicherweise etwas herausfinde, das für das Mädchen an sich keine Konsequenz hat und das sie vielleicht gar nicht wissen will. Das muss ich halt vorher mit ihr klären.

Axel Enninger: Sagen Sie mal ein Beispiel?

Christoph Bidlingmaier: Nehmen wir mal an, die Mama hat irgendetwas und die Mama hat zum Beispiel als Risikofaktor neben der Immobilität eine Prothrombinmutation oder einen thrombophilen Risikofaktor und dann untersuche ich das Mädchen. Das würde ich komplett untersuchen, also nicht nur diesen einen Risikofaktor, sondern dann würde ich ein komplettes Thrombophilie-Screening machen, wie es so allgemein anerkannt ist. Dann untersuche ich das Mädchen und finde etwas heraus, das die Mutter, die Betroffene, gar nicht hatte. Das Mädchen hat ein Faktor-V-Leiden, eine Feld-, Wald- und Wiesenmutation, die unglaublich viele Menschen haben. Da tue ich mich dann schon wieder schwerer, das Mädchen zu beraten. Was soll sie damit anfangen? Die hat sie ja wahrscheinlich vom Vater, der hatte aber gar keine Thrombose.

Axel Enninger: Okay, das heißt, alles, was Sie machen, das auf genetischen Hintergrund schließen lässt, da sind Sie schon eher pingelig und eher restriktiv, dass Sie sagen: ‚Also hier, das ist Gendiagnostik-Gesetz. Ich will vielleicht auch nicht alles wissen und mal eben schnell das Kreuz machen ist vielleicht keine so gute Idee.‘

Christoph Bidlingmaier: Genau. Also ich sag schon, ich fordere, dass ein erstgradiger Verwandter eine Thrombose hatte. Ich fordere optimalerweise, wenn das geht, dass ich von diesem erstgradigen Verwandten weiß, was ein Risikofaktor ist und ich möchte eigentlich auch, dass der Mensch, dem ich das Blut abnehme, versteht, warum ich das tue und was ich da mache. Deswegen möchte ich gerne mit ihnen reden. Wenn ich jetzt eine Familie habe, wo lauter Säuglinge bereits schwerwiegende Thrombosen hatten und vielleicht schwere Risikofaktoren vorliegen, dann würde ich natürlich auch weitere Säuglinge in der Familie untersuchen. Es gibt schwere Risikofaktoren: Protein-C-Mangel, Protein-S-Mangel, Antithrombinmangel, die muss ich auch beim Neugeborenen wissen, wenn ich weiß, dass so etwas in der Familie ist. Aber so Dinge wie ein Faktor-V-Leiden, der nun wirklich unendlich häufig ist, da gibt es ein Recht auf Nichtwissen. Das muss man nicht machen. Wir wissen, dass es Leute gibt, die dann später mit einer Versicherung oder irgendwas Probleme bekommen haben.


Faktor-V-Leiden kommt häufig vor, Faktor-V-Mangel ist extrem selten
Axel Enninger: Das ist vielleicht ein ganz gutes Stichwort. Faktor-V-Leiden, Faktor-V-Mangel. Da müssen Sie mir ein bisschen was erläutern. Viele Leute sagen: ‚Ja, Mama hat…, Oma hat…‘ Dazu müssen Sie ein paar Sätze sagen, glaube ich.

Christoph Bidlingmaier: Der Punkt ist, dass es natürlich schwierig auseinander zu halten ist. Der Faktor-V-Mangel wäre eine Blutungsneigung. Dann habe ich zu wenig plasmatischen Gerinnungsfaktor V. Das ist eine ausgesprochen seltene Blutungsneigung, die im schweren Ausmaß selbst in Riesenzentren, riesig ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber in großen Zentren wie in München extrem selten vorkommen. Ein Faktor-V-Leiden, das ist der „zu gut klebende“ Faktor V. Der ist ja auch bekanntermaßen nach dieser holländischen Stadt benannt, wo eben die Entdeckung stattfand, oder in der Universität dort. Dieser zu gut klebende Faktor, der führt zu einer gewissen Erhöhung des Thromboserisikos. Das ist aber so häufig, dass man sehr darüber streiten kann, ob man das wissen muss oder nicht. Ich glaube, es kommt da sehr auf den Einzelfall an, ob man das macht.

Axel Enninger: Aber ich habe den Eindruck, das wissen sehr viele. Wenn ich vor einer Gastroskopie, Koloskopie unseren Fragebogen durchgehe, Faktor-V-Leiden, höre ich da alle naslang.

Christoph Bidlingmaier: Ja, weil es halt so häufig ist, wissen es tatsächlich viele. Dann wissen es sehr viele, weil es im Rahmen der Kinderwunschdiagnostik oft gemacht wird. Da wird gerne ein Thrombophilie-Screening gemacht. Dann wissen es die Mütter, dass sie so etwas haben und wollen es auch für die Tochter wissen. Es gibt eine gewisse Verwechslungsgefahr auch, dass zum Beispiel der Faktor-V-Leiden irgendwo auftaucht und es dann als Blutungsrisiko für eine OP wahrgenommen wird. Oder es gibt Patienten, die einen Faktor-V-Leiden haben und dann kriegen sie eine Tonsillektomie und sollen antikoaguliert werden, wovon ich dringend abraten würde, weil das eben doch das Blutungsrisiko dann erheblich erhöhen würde.

Axel Enninger: Okay, wir halten fest: Faktor-V-Mangel ist etwas extrem Seltenes. Faktor-V-Mangel würde grundsätzlich dazu führen, dass man eine erhöhte Blutungsneigung hat, ist aber selten. Sollten wir „Amateure“ möglichst nicht verwechseln. Wenn wir hören Faktor-V-Leiden, heißt das erst mal: Ja, tendenziell gibt es eine gewisse Thromboseneigung, aber im klinischen Alltag macht es uns eigentlich keinen Ärger. Ist das die Kurzzusammenfassung?

Christoph Bidlingmaier: Das wäre die Kurzzusammenfassung für Patienten, die sonst nichts haben. Wenn ich jetzt Patienten habe mit zusätzlichen Risikofaktoren, wie zum Beispiel zentrale Zugänge oder irgendwie so etwas, dann muss man es im Einzelfall diskutieren.

Axel Enninger: Aber das können wir vielleicht noch mal aufdröseln. Also bei wem ist denn diese Information „Faktor-V-Leiden nachgewiesen“ tatsächlich für uns klinisch relevant? Also zentrale Zugänge kann ich nachvollziehen. Noch etwas?

Christoph Bidlingmaier: Wenn ich weiß, dass in der Familie tatsächlich Patienten im jungen Alter eine Thrombose erlitten haben, die durch nicht wahnsinnig viel mehr als durch diesen Faktor-V-Leiden und eine reproduzierbare Risikosituation entstanden sind. Also zum Beispiel hat dieser Patient nach der OP mit achtzehn Jahren eine Beinvenenthrombose bekommen, dann würde ich dem Sohn, der auch den Faktor-V-Leiden hat, wahrscheinlich auch schon mit zwölf, obwohl er da normalerweise von den Kollegen aus der Chirurgie noch nicht antikoaguliert werden würde, trotzdem eher antikoagulieren. Oder es ist ein Kind, das schwerer erkrankt ist, deswegen länger liegen muss, einen starken Flüssigkeitsverlust hat. Dann würde ich zumindest darüber nachdenken und dann ist die Information im Hinterkopf relevant. Ob man dann immer gleich etwas machen muss, ist eine andere Frage. Aber man sollte es wie so viele Dinge auf Station mit einbeziehen, wenn man den Patienten betrachtet.

Axel Enninger: Also das würde ich für den klinischen Alltag kapieren. Wenn ich überhaupt darüber nachdenke und ich dann sage: ‚Na ja, er ist aber erst elf!‘, und unsere Grenze, die wir irgendwann einmal festgelegt haben, ist zwölf oder so, dann könnte man sagen: ‚Okay, da gibt es aber noch einen weiteren Faktor, also überlege ich noch einmal mehr.‘

Christoph Bidlingmaier: Genau.
COVID bringt unter anderem die Gerinnung durcheinander
Axel Enninger: Das klingt pragmatisch. Vielleicht ein Thema, das auch in dieses Thema Thrombophilie, Blutgerinnsel, Blutgerinnung gehört – da glaube ich, kommen wir nicht drum herum, dass wir ein paar Takte zu COVID und Blutgerinnung sagen müssen. COVID spielt ja durchaus eine Rolle bei dem Thema „Vaskulitis / Gefäße“. Können Sie ein paar Worte dazu sagen?

Christoph Bidlingmaier: Wir haben im Rahmen der COVID-Pandemie, so wie bei vielen anderen Infektionen eben feststellen müssen, dass die Patienten, die schwerer erkrankt sind, oft eher auf der Seite der Thromboseneigung sind. Sie haben veränderte Gerinnungswerte, sie haben aktivierte Thrombozyten, sie haben hohe Willebrand-Werte, teilweise hohes Fibrinogen und Ähnliches, hohe D-Dimere, da ist viel Gerinnungsaktivität im Körper, und sie sind eben durch verschiedene Arten von Thromboembolien besonders gefährdet. Das haben wir herausbekommen. Es gibt auch Vaskulitiden unter COVID. Es gibt Patienten, die an sich die Erkrankung Corona für sich gut hinter sich gebracht haben, aber dann zum Beispiel vaskulitische Erscheinungen auf der Haut oder Ähnlichem zeigen. Die Corona-Erkrankung bringt vieles durcheinander, unter anderem die Gerinnung.

Axel Enninger: Okay. Ich bin nun gar nicht Intensivmediziner, ich glaube, Sie waren es mal.

Christoph Bidlingmaier: Nicht wirklich.

Axel Enninger: Nicht wirklich. Okay.

Christoph Bidlingmaier: Nur im Rahmen der Ausbildung und mit sehr viel Sorge jede Nacht.
Blutgerinnungsstörung und Impfen
Axel Enninger: Okay, gut. Da geht es uns gleich. Bei mir waren es ein paar Jahrzehnte davor. Aber gut, da mischen wir uns natürlich nicht ein, aber logisch und vielleicht als Engramm: Wenn jemand eine COVID-Infektion hat, kann man tatsächlich auch daran denken, dass durchaus das Gerinnungssystem beeinträchtigt ist. Ich würde gerne mit Ihnen noch so ein paar Szenarien durchspielen. Zum Thema „Was mache ich denn, wenn es blutet?“ Gibt es Medikamente, die wir benutzen können? Bevor wir das machen, aber noch etwas ganz Banales: Da hat jemand eine Blutgerinnungsstörung – und ich hatte das Vergnügen, bei einem der Impfzentren hier in Stuttgart mitzumachen – und ganz am Anfang haben wir bei den älteren Menschen immer nach Blutverdünnern gefragt und haben dünnere Nadeln genommen. Damit haben wir irgendwann mal aufgehört, dann haben alle die gleiche Nadel bekommen. Wie ist denn das? Impfungen, dicke Nadel, dünne Nadel? Muss ich irgendetwas beachten bei Menschen, die eine Blutgerinnungsstörung haben?

Christoph Bidlingmaier: Also, wenn ich weiß, dass der Patient eine schwere Blutgerinnungsstörung hat, im Sinne einer schweren Blutungsneigung – klassischerweise, wenn jemand eine schwere Hämophilie hat, dann sollte der Patient schon von seinen behandelnden Ärzten darauf aufmerksam gemacht worden sein, dass er sich vor der Impfung mit seinem Medikament substituiert, mit seinem Faktorenkonzentrat, damit er quasi als „Gerinnungsgesunder“ im Impfzentrum aufschlägt. Dann muss man da auch keine Sorgen haben. Es gibt dazu auch Leitlinien, die kann man im Internet finden und vermutlich dann später vielleicht auch in den Shownotes. Da gibt es dann auch Zeiten, wie lange vorher er das gemacht haben muss. Das ist aber eigentlich Aufgabe des Gerinnungszentrums, den Patienten gut vorbereitet dorthin zu schicken, genauso wie ein Gerinnungszentrum einen Patienten gut vorbereitet in jede OP schicken würde. Wenn wir jetzt von Menschen ausgehen, die leichte Blutgerinnungsstörungen haben, einen leichten Willebrand oder Ähnliches, die sich nicht regelmäßig eh substituieren, dann kann man über dünnere Nadeln nachdenken, was aber ja auch bei den Coronaimpfstoffen gar nicht so trivial war, weil sie wegen ihrer Verpackung in irgendwelche Lipide nicht durch die dünnsten Nadeln durchgegangen sind. Hier ist es wichtig, dass die Patienten das einfach sagen und dass man dann nach der – zumindest bei mRNA-Impfstoffen – zwingend notwendigen intramuskulären Injektion lange genug drückt. Das ist auch das, was wir bei jeder anderen Impfung den Patienten auf jeden Fall raten, dass sie nämlich lange genug auf die Stelle drücken. Bei mir in der Praxis müssen die Eltern von Hämophiliepatienten da einfach zehn Minuten drücken und dann passiert in der Regel auch nichts. Die Amerikaner machen das schon lange so, sie haben eigentlich immer gesagt: ‚Ach, man kann intramuskulär impfen.‘ Sie haben dann auch mal Studien dazu gemacht. In Deutschland gab es auch Studien dazu. Wir waren eigentlich immer so die Subkutan-Impfer, bis zunehmend Impfstoffe auf den Markt kamen, die man einfach nicht mehr subkutan verimpfen durfte. Wo auch die Hersteller, auch auf mehrfache Nachfrage, nicht gesagt haben: ‚Dann impft es halt subkutan.‘ Bei den meisten normalen Kinderimpfstoffen ist es kein so großes Problem, aber schon da gibt es welche, wo es nicht geht. Da gibt es auf den Seiten des Robert Koch-Instituts auch eine ganz gute Zusammenstellung, eine Übersicht „Impfen bei Blutgerinnungsstörungen“.

Axel Enninger: Okay, verlinken wir auch in die Shownotes, neudeutsch. Das sagen wir jetzt ja in jeder Podcastfolge [schmunzeln]. Aber auch da das Fazit: Es geht mehr i. m. als man früher gedacht hat. Eine dünne Nadel ist meistens keine ganz schlechte Idee und im Zweifelsfall gilt: Draufdrücken für 10 Minuten / Viertelstunde oder so.

Christoph Bidlingmaier: Und bei bekannter schwerer Blutgerinnungsstörung vorher substituieren, was man früher nicht gemacht hat aus verschiedenen Gründen. Das wissen wir aber inzwischen, dass das sehr schlau ist, wenn man das macht.
Was tun, wenn es blutet?
Axel Enninger: Okay, das ist ein gutes Stichwort. Bekannte Blutgerinnungsstörungen. Da ist ein Patient, der hat eine Hämophilie A und blutet. Was mache ich? Oder was macht der Patient?

Christoph Bidlingmaier: Der Patient? Also, wenn der Patient schon ein bisschen länger seine Hämophilie A hat und nicht mehr ganz klein ist, dann weiß er oder seine Eltern – ich bin ja Kinderarzt – was sie dann tun sollen, nämlich er muss substituieren, er muss seinen Faktor spritzen in aller Regel. Es gibt ja verschiedene Therapiemöglichkeiten heutzutage, aber die allermeisten Patienten haben ein Faktorenkonzentrat zu Hause, das sie sich regelmäßig zur Prophylaxe intravenös spritzen. Das macht in den ersten Monaten und Jahren entweder ein Pflegedienst oder der niedergelassene Kinderarzt – dankenswerterweise. Großes Danke an alle, die das in ihren Praxen machen! Wir bringen es dann in den Zentren den Eltern meistens so um das erste Lebensjahr herum bei, wie man Faktorenkonzentrate intravenös spritzt. Und so mit 8 Jahren bringen wir es den Kindern bei, wie sie es selber machen. 8 bis 10 Jahren, je nachdem, ob das Kind will und wie es beieinander ist. Wenn sich ein Patient mit einer Hämophilie verletzt oder schwerer stürzt, dann gilt immer: spritzen. Da braucht man gar nicht lange drüber nachzudenken. Das wissen sie, sie spritzen 50 Einheiten pro Kilo passend auf die Packungsgrößen, die sie zu Hause stehen haben und dann ist schon mal Ruhe.

Axel Enninger: Jetzt ist er ausgerechnet kurz vor der Kinderarztpraxis auf die Nase gefallen, blutet wie wild, sitzt dann in der Kinderarztpraxis und die Regel gilt auch für den niedergelassenen Kinder- und Jugendarzt: erst spritzen, dann ins Krankenhaus. Oder?

Christoph Bidlingmaier: Ja, in der Regel schon. Das ist auf jeden Fall so zu sagen. Klar, wenn ich auf jeden Fall weiß, dass es unter gar keinen Umständen geht, dann brauche ich vielleicht nicht eine halbe Stunde damit versuchen, das Kind zu traumatisieren und Faktor reinzukriegen, was dann nicht klappen wird. Aber normalerweise klappt das ja. Das gilt auf jeden Fall. Und wie gesagt, mit 50 Einheiten pro Kilo kann man nichts falsch machen, selbst wenn er sich am Morgen schon das Faktorenkonzentrat gespritzt hat. Dann ist er halt extradolle substituiert. Ob das notwendig ist, ist eine andere Frage, aber vielleicht hat man die Zeit nicht. Wenn man die Zeit hat, sollte man auf jeden Fall versuchen Kontakt aufzunehmen – mit den Eltern ja sowieso, aber auch gerne mit den behandelnden Ärzten im Hämophiliezentrum. Wie die meisten chronischen Patienten haben Gerinnungspatienten, egal ob auf der Blutungs- oder Thromboseseite, in der Regel einen Notfallausweis, wo eine Nummer draufsteht, wo man, wenn nicht alle gerade im Flugzeug nach Amerika auf irgendeinen Gerinnungskongress unterwegs sind, man eigentlich immer jemanden erreicht.

Axel Enninger: Also da gibt es ja eine schöne Studie – ich weiß gar nicht, um welche Spezialisten es ging – wo man mal geguckt hat, wie denn die Morbidität und Mortalität ist, wenn lauter Spezialisten alle auf einem Kongress und nicht erreichbar sind. Die Aussage war, die Morbidität und Mortalität sinkt. Es ist für den Patienten eher günstig, wenn alle Spezialisten im Zweifelsfall nicht erreichbar sind. Ich glaube, es ging um Chirurgen, aber ich weiß es nicht ganz genau. Aber es war jedenfalls so, dass, wenn hier in der Klinik gelegentlich die Diskussion aufkommt: ‚Können denn drei Gastroenterologen gemeinsam auf den Kongress?‘, sage ich immer: ‚Ja, können sie!‘ Die Komplikationsrate sinkt eher, als dass sie steigt. Okay, also für die Bluter gilt: im Zweifelsfall spritzen und es macht da nichts, wenn ich zu viel gebe. Eher, wenn ich zu zurückhaltend bin.

Christoph Bidlingmaier: Genau. Die Gefahr ist sicherlich eher… Also, wenn er jetzt auf die Nase fällt, wird wahrscheinlich nicht wahnsinnig viel passieren. Aber nehmen wir an, er hat tatsächlich eine intrazerebrale Blutung, dann kann wirklich etwas passieren, und das hätte ich verhindern können. Also sollte ich es auf jeden Fall tun. Und bei größeren Verletzungen auf jeden Fall. Das Schöne ist, die Eltern lernen sehr schnell, können ihr Kind gut einschätzen, können auch Stürze und kleinere Wehwehchen gut einschätzen und wissen nach spätestens ein paar Jahren sehr genau, was sie da tun müssen. Wir hatten jetzt auch gerade wieder Eltern-Kind-Wochenende. Da geht es genau um solche Themen. Da sind dann alle Eltern und erzählen sich gegenseitig, in welchen Situationen man spritzen muss und wann man eher auch mal gelassen sein kann.

Axel Enninger: Jetzt sind ja Gerinnungsmedikamente nicht unbedingt Medikamente, mit denen wir täglich zu tun haben. Ich sowieso nicht als Kinder-Gastroenterologe, aber auch der niedergelassene Kinder- und Jugendarzt üblicherweise nicht. Da hatten wir im Vorfeld so ein paar Fallstricke identifiziert. Sie dürfen sie loswerden: kleine Warnhinweise oder Anmerkungen des Gerinnungsspezialisten.
Faktorenkonzentrate über das Gerinnungszentrum
Christoph Bidlingmaier: Gut, also Fallstrick Nr. 1: Diese Gerinnungspräparate – alle, auch die neuen, die vielleicht gar nicht mehr intravenös, sondern unter die Haut gespritzt werden können – die sind alle gar nicht günstig, die sind verhältnismäßig teuer. Die kann man zwar heutzutage alle in der Apotheke bekommen, ich würde trotzdem davon abraten, dass man Faktorenkonzentrate als niedergelassener Kinderarzt verschreibt. Die Patienten haben ein Gerinnungszentrum und es ist besser, wenn das Ganze über das Gerinnungszentrum läuft. Diese Präparate sind hoch-reguliert. Das heißt, da müssen Meldefristen eingehalten werden an die Bundesbehörden und das übernimmt in der Regel dann das Hämophiliezentrum. Das kennt jeder, wenn man eine Blutkonserve, die ja auch nichts anderes ist als ein Gerinnungsprodukt – und da wo Hämostaseologen in der Klinik verfügbar sind, sind sie ja oft auch mit der Transfusionsmedizin verbandelt – wenn ich eine Blutkonserve anhänge, dann muss ich auch eine Chargen-Dokumentation machen und all diese Dinge. Das ist halt bei den Gerinnungspräparaten, zumindest denen auf der Blutungsseite, auch so. Ein klassisches Gerinnungspräparat wäre ja auch FFP [Anm. d. Red.: Fresh Frozen Plasma], das wir geben. Wenn einer unklar blutet, muss man immer sehr viel davon geben, weil nicht so viel Einzelfaktor drin ist, aber auch das muss man ja sehr genau dokumentieren. Das ist der erste Fallstrick, den man hat. Bei der Blutungsseite hat man gottseidank wenigstens kein großes Zulassungsproblem. Die meisten Präparate sind zugelassen ab Geburt. Nicht alle, aber die allermeisten. Und die Eltern wissen ja, welches Präparat sie haben. Das heißt, um die Zulassungsfrage hat sich das Gerinnungsteam schon gekümmert. Da kann man also entspannt sein.

Axel Enninger: Ein anderes, häufig verwandtes, zumindest in der Klinik häufig verwandtes Medikament ist ja Clexane®. Da gibt es, war mir auch nicht so richtig klar, offensichtlich auch ein Indikations- und Zulassungsthema?

Christoph Bidlingmaier: Ja, also Clexane® wäre jetzt auf der anderen Seite, auf der Thromboseseite, Enoxaparin als Wirkstoff, es gibt ja auch Dalteparin und andere. Die haben in aller Regel, nein nicht „in aller Regel“, sondern: Die haben auch keine Zulassung für Kinder. Und beim Clexane® habe ich gestern noch mal reingeguckt – oder beim Enoxaparin, um beim Wirkstoff zu bleiben – habe ich gestern noch mal in die Fachinformationen reingeguckt. Da steht drin, es gäbe keine Daten für Kinder, keine Erfahrungen. Lustigerweise steht dann noch drin, dass das Multi-Dose aber nicht bei Neugeborenen eingesetzt werden darf, weil da ein bestimmter Alkohol drin wäre, was schade ist, weil das natürlich praktisch wäre, weil man aus diesen Durchstechflaschen genau die Menge rausziehen könnte, die man braucht. Aber das darf man nicht und sollte man auch nicht tun. Wie bei allen Medikamenten, die nicht zugelassen sind im Kindes- und Jugendalter, ist es deswegen wichtig, dass man die Eltern darüber aufklärt und ihnen sagt, dass es nicht zugelassen ist. Wir haben die bei uns in der Klinik und machen das auch noch immer mit Unterschreibenlassen, dass wir ihnen das erzählt haben, dass wir über die Nebenwirkungen gesprochen haben, die sehr, sehr, sehr, sehr, sehr seltene und im Kindesalter eigentlich nicht beschriebene HIT unter niedermolekularen Heparinen zum Beispiel.

Axel Enninger: Noch mal: HIT – für Menschen, die sich nicht regelmäßig damit beschäftigen?

Christoph Bidlingmaier: Heparin-induzierte Thrombozytopenie. Die gibt es häufiger, wenn man Heparin i. v. gibt, auch bei Kindern. Aber unter niedermolekularen Heparinen ist das eine Rarität. Also ich habe keine erlebt in 22 Jahren Gerinnungsambulanz. Ich habe zweimal geglaubt, es könnte eine sein, aber es war dann keine.
Neue Therapien
Axel Enninger: Jetzt haben Sie über die Zulassungsthemen bei Clexane® schon gesprochen. In fast allen Fachbereichen werden wir momentan überschüttet von „-nubs“, „-nibs“, „-nabs“ und „-mabs“. Was tut sich denn da? Was tut sich denn da in Ihrem Bereich beim Thema monoklonale Antikörper? Was haben wir da beim Thema Gerinnung zu erwarten?

Christoph Bidlingmaier: Wir haben selbstverständlich auch „-mabs“, weil wir auch echte Ärzte sind und wir haben Emicizumab aktuell schon zugelassen. Das ist ein bispezifischer Antikörper, der so ein bisschen die Funktionen von Faktor VIII imitiert und dadurch zu einer gewissen Grundgerinnung bei den Patienten führt. Also wissenschaftlich kann man es nicht wirklich vergleichen, aber im normalen Leben sagt man immer, so 10 bis 20 % Faktor VIII entspricht das ungefähr, was die Kinder dann haben, und zwar dauerhaft, wie so ein Brett in der Kurve. Das ist natürlich sehr schön. Nachteil ist, sie haben auch nicht mehr. Das heißt, wenn sie sich verletzen, dann brauche ich eben meistens doch… Also, wenn sie sich stärker verletzen, brauche ich meistens doch ein Faktorenkonzentrat, um auf die 80 bis 100 %, die normal wären, zu kommen. Das Schöne aber bei dem Medikament ist, dass ich es halt subkutan geben kann. Ich muss es also nicht mehr in die Vene spritzen.

Axel Enninger: Sagen Sie den Namen noch mal, weil wir das ja immer gerne wieder mal vergessen.

Christoph Bidlingmaier: Emicizumab.

Axel Enninger: Emicizumab. Sensationell. Gibt‘ s noch welche?

Christoph Bidlingmaier: Ja, es gibt noch ein paar mehr, die aber erst in der Forschung sind. Es gibt neben diesem Medikament, was so ein bisschen tut, als wäre es Faktor VIII, gibt es Antikörper, die Antithrombin herunterregulieren oder Anti-TFPI, das sind dann Gerinnungsstoffe, die ein normaler „klinischer Gerinner“ wie ich auch schon nicht mehr wirklich aussprechen kann. Aber die sind noch nicht im allgemeinen Einsatz.

Axel Enninger: Sie haben da jetzt sozusagen diesen einen. Wenn ich mich so umgucke, wir Kinder-Gastroenterologen haben ein paar, da kommen lauter Neue. Die Rheumatologen haben Neue, die Dermatologen haben Neue. Ich glaube ja, dass wenn wir mal Medizin in 20 Jahren machen, da werden die Jungen nur noch „-mabs“, „-nubs“ und „nibs“ verteilen, und es wird die Medizin, glaube ich, wirklich sensationell revolutionieren. Also auch bei Ihnen tut sich da etwas.

Christoph Bidlingmaier: Ja, das Tollste bei uns ist eigentlich, wenn ich einen normalen Patienten habe, der gut mit einem Faktorenkonzentrat läuft, dann ist das eigentlich für den das Beste, weil das so ein bisschen die „Biovariante“ des Ganzen ist. Sie sind zwar meistens rekombinant hergestellt, aber damit kann ich ziemlich genau abbilden, was normalerweise passiert. Wenn ich blute, habe ich auch als normaler Mensch ein bisschen höhere Faktor-VIII-Spiegel. Ich kann den gut über die Woche bringen und kann die Dosis anpassen an seinen Lebensrhythmus, kann das sehr gut individualisieren. Und ich habe heutzutage Faktorenkonzentrate sowohl bei der A als auch bei der B, die sehr lange haltbar sind. Bei der B muss ich nur noch jede Woche spritzen, bei der A wird das möglicherweise auch kommen. Das heißt, es ist schon mal ganz hervorragend.

Axel Enninger: Okay, das ist Zitat Bidlingmaier Ende 2022. Und wenn man diesen Podcast in 15 Jahren mal hört, wird man sagen: ‚Mein Gott, wie rückwärtsgewandt und wie unmodern.‘ Da bin ich mal gespannt, was daraus wird.

Christoph Bidlingmaier: Na, es wird immer Patienten geben, für die das eine gut ist und Patienten geben, für die das andere gut ist. Und das ist ja das Schöne, dass wir heute einen breiten Malkasten haben und genau gucken können, was für den einzelnen Patienten gut ist. Wir haben in der Hämophilietherapie auch die erste zugelassene Gentherapie. Die ist für Kinder nicht zugelassen aktuell, aber sie ist zugelassen in Europa von der EMA. Und jetzt müssen wir noch klären, wer sie zahlt und man muss auch noch Patienten finden, die sie wollen. Wir sind also durchaus auch in der Hämostaseologie, auch wenn wir mit römischen Ziffern schreiben, sehr modern.

Axel Enninger: Jetzt haben wir eine Weile über Clexane® gesprochen und wissen, dass Clexane® subkutan spritzen nicht so richtig witzig ist. Gibt es denn möglicherweise etwas Neues, das wir erwarten können und das den Kindern und Jugendlichen das Leben einfacher macht?

Christoph Bidlingmaier: Ja, wir können es nicht nur erwarten, sondern wir haben inzwischen in der Thrombosetherapie ein zugelassenes Medikament für Kinder, nämlich Rivaroxaban, das die Erwachsenen schon lange kennen, eines von den direkten oralen Antikoagulantien. Das gibt es sogar als Saft und ist ab Geburt zugelassen. Es gibt ein paar Zulassungseinschränkungen. Das Kind muss eine Thrombose gehabt haben und fünf Tage anderweitig behandelt worden sein, aber danach kann man das wunderbar verwenden. Schmeckt nach Erdbeere, habe ich mir sagen lassen. Und die Kinder, die lange gepiekst wurden, sind begeistert.

Axel Enninger: Okay, sehr gut. Noch mal für den „Nicht-Gerinner“, das heißt?

Christoph Bidlingmaier: Xarelto® als Handelsname. Rivaroxaban ist der Wirkstoff.

Axel Enninger: Okay, vielen Dank, sehr gut. Herr Bidlingmaier, es gibt eine gute Tradition in diesem Podcast und die heißt Dos und Don‘ts. Sie dürfen zwei oder drei Aussagen loswerden, die Sie unbedingt positiv vermitteln möchten. Sie dürfen aber auch ein paar Dinge sagen, von denen Sie möchten, dass man die endlich nicht mehr macht. Nach dem Motto: „Lasst das bitte sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.“ Die Reihenfolge dürfen Sie bestimmen. Los geht’s.

Anamnese über alles, Quick und PTT sind nicht alles. Wenn es blutet, Ursachenforschung, vernetzen, immer ein volles Röhrchen! Nicht nur auf Diagnostik vertrauen und nur machen, wenn erforderlich.
Christoph Bidlingmaier: Fange ich mit den Dos an. Wie vorhin schon gesagt: Anamnese, Anamnese, Anamnese mit der Familiengeschichte des Kindes. Wenn es so klein ist und es hat einfach noch nichts erlebt, dann kann es noch nicht geblutet haben. Dann muss ich wissen, ob die Eltern oder Geschwister geblutet haben. Dann sollte man daran denken, dass es Gerinnungsprobleme geben kann, auch dann, wenn zum Beispiel die Globaltests, also Quick und PTT, normal sind. Wenn das Kind dann trotzdem blutet, dann gilt: Gerinnungsstörung ist, wenn es blutet und dann muss ich danach suchen, ob ich eine Ursache finde und letztlich: Vernetze dich! Suche in deiner Umgebung einen Hämostaseologen, damit du ihn im Zweifel fragen kannst. Findet man auf der Homepage der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung, von der GTH, die Ansprechpartner auch für die pädiatrischen „Gerinner“. Dann hat man im Notfall Hilfe. Bei den Don‘ts. Das Allerwichtigste ist: Füll das Röhrchen stets ganz voll, halbe Röhrchen zählen nicht! Vertrau der Diagnostik nicht, d. h. bloß, weil es normal ist, muss es nicht normal sein. Bloß, weil irgendein Wert auffällig ist, muss der nicht erklären, dass es deswegen blutet. Es kann trotzdem chirurgisch bluten, auch wenn die PTT ganz lang ist. Wenn er einen Faktor-XII-Mangel hat, stört das eigentlich nicht. Und mach die Diagnostik dann, wenn du sie brauchst und lass sie weg, wenn du sie nicht brauchst.

Axel Enninger: Okay, sehr schön. Letzteres gilt natürlich für ganz viele Bereiche in der Medizin. Lieber Herr Bidlingmaier, vielen Dank. Ich glaube, Sie haben gezeigt, dass Sie nicht nur ein „Gerinnologe“, sondern auch ein klinisch tätiger Kinder- und Jugendarzt sind. Einfach eine sehr, sehr gute Kombination. Ich ahne, dass Sie die eine oder andere Anfrage bekommen werden, weil die Leute jetzt sagen: ‚Ah, Bidlingmaier, das ist ja so einer, dem kann man auch Fragen stellen, die vermeintlich blöd klingen. Also das ist das Risiko, wenn Sie jetzt hier mit uns in dem Podcast sprechen. Aber ich glaube, das werden Sie sportlich nehmen und sich vielleicht sogar ein wenig freuen, oder?

Christoph Bidlingmaier: Ja, durchaus. Also das können wir auch in den Shownotes verlinken und man findet mich auch, wenn man mich googelt. Die meisten meiner Kollegen oder eigentlich alle in der pädiatrischen Hämostaseologie stehen gerne für Fragen zur Verfügung. Ich habe ja auch noch das Zentrum bei uns im Hintergrund, mit denen ich noch zusammenarbeiten darf. Ich weiß, wie oft da das Telefon bei meinem Chef klingelt.

Axel Enninger: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, vielen Dank fürs Zuhören. Wenn es Ihnen gefallen hat, freuen wir uns natürlich über eine positive Bewertung und auch über einen positiven Kommentar. Wenn es Ihnen nicht gefallen hat, schreiben Sie es nicht in die Bewertung, sondern schreiben Sie uns direkt. Was Sie uns auch schreiben dürfen, sind Themenvorschläge oder Vorschläge für Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Da sind wir immer sehr dankbar und freuen uns über entsprechende Hinweise. Vielen Dank fürs Zuhören.

Christoph Bidlingmaier: Vielen Dank!

 

Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!

Ihr Team von InfectoPharm