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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #24 - 24.02.2023

 

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

 

ADHS – vom guten Umgang mit jungen „Spätzündern“

 

Axel Enninger: Heute spreche ich mit:

Privatdozent Dr. Jan Frölich aus Stuttgart.

 

 


DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast! Unser Thema heute ist ADHS, und ich rede heute mit Privatdozent Dr. Jan Frölich. Er ist Kinder- und Jugendpsychiater, Kinder- und Jugendarzt und Diplompädagoge und damit der ideale Mensch, um sich über ADHS zu unterhalten. Herzlich willkommen!

 

Jan Frölich: Vielen Dank für die Einladung!

Keine Modediagnose

Axel Enninger: Bevor wir starten, muss ich etwas loswerden: Ist ADHS eine Modediagnose?

 

Jan Frölich: Dazu muss ich sagen, das höre ich eigentlich seit Beginn meiner Laufbahn. Wir hatten früher das MCD, minimal cerebral dysfunction. Das war in meinen ganz jungen Jahren. Danach hieß es HKS, hyperkinetische Störung, dann ADHS. Das heißt, es hat mehrfach einen Bedeutungswandel durchlaufen, aber man kann im Grunde sagen, wir gehen weltweit von einer stabilen Prävalenz zwischen 5 und 7 % aus. Man hat schon den Eindruck, dass man es mittlerweile häufiger diagnostiziert, aber das liegt eher daran, dass mehr awareness, also letztendlich mehr Bewusstheit von Erwachsenen, die sich fortgebildet, ausgebildet oder belesen haben, im Hinblick auf das Störungsbild besteht. Interessanterweise ist es bei Jugendlichen in letzter Zeit häufig so, dass wenn ich die Patienten frage, warum sie in die Sprechstunde kommen, dass der Jugendliche den Termin haben wollte. Sie sagen: ‚Ich habe mich belesen und ich glaube,‘ so 16-, 17-, 18-Jährige sind das meist, ‚ich könnte mir vorstellen, dass bei mir eine Aufmerksamkeitsstörung vorliegt. Kann man das abklären?‘

Wir haben natürlich eine gewisse Überformung oder -frachtung von Prävalenzen – so sehe ich das zumindest nach langjähriger Erfahrung – durch exzessiven Missbrauch, Gebrauch von digitalen Medien. Auch jetzt gerade nach Corona hat es natürlich noch einmal sehr stark zugenommen.

Hier gibt es auch gute Studien, die nachgewiesen haben, dass auch ohne eine Grundlage der ADHS – es ist ja im Grunde eine angeborene, angelegte Störung – ein exzessiver Missbrauch digitaler Medien zu einer ADHS-Symptomatik, also quasi zu einer sekundären ADHS, führen kann. Im Grundsatz bleibt es aber dabei: Es ist keine Modediagnose, die man auch sehr gut leitlinienorientiert abklären kann und abgrenzen zu den „Abschattungen“ gewissermaßen, wo man sagt: ‚Das ist vielleicht sekundär oder eine vorübergehende Angelegenheit.‘ Also, es lässt sich also gut abklären, sodass wir eigentlich jenseits der Modediagnose sind.


Axel Enninger: Trotz mehr Präsenz in den Medien und trotz der Tatsache, dass häufiger darüber gesprochen wird, gibt es also eigentlich keine steigenden Prävalenzen?


Jan Frölich: Nein, keine steigenden Prävalenzen. Die sind im Grunde über die letzten Jahre weltweit stabil.


Axel Enninger: Wenn man so viel darüber lesen kann, weiß man dann mittlerweile, warum man eine ADHS kriegt?

Genetische Anlage mit Ausreifungstendenz

Jan Frölich: In den meisten Fällen, bis zu 80 %, werden Sie genetische Ursachen finden. Also ist es sehr wichtig, auch die Familienanamnese zu erheben und die Eltern zu befragen. Die sagen natürlich meist: ‚Ja, wissen Sie, damals wurde die Diagnose bei mir nicht erhoben. Ich kann aber von mir selbst sagen, wenn ich die Geschichte meines Kindes hier sehe,‘ das hier in der Vorstellungssituation sitzt, ‚dass ich meine eigene Geschichte sehe. Ich war ein Träumer.‘ Oder: ‚Ich war ein Zappelphilipp.‘ Oder: ‚Ich war ein Impulsiver‘. Das sind ja die Hauptsymptome. Entscheidend ist aber, dass die Eltern häufig sagen: ‚Das war bei mir so‘, also diesen Reifungscharakter auch noch einmal hervorheben. Viele Eltern fragen mich: ‚Sagen Sie, ist das so eine Art Spätzündersyndrom?‘ Das trägt dem schon Rechnung, dass man im Grunde sagen kann: genetische Anlage mit Ausreifungstendenz. Das müssen wir aber gleich noch einmal vertiefen. Es gibt ein paar andere Ursachen: Frühgeburtlichkeit, Frühgeburtskomplikationen. Dann wird immer wieder auch von Allergien gesprochen, aber das sind letztendlich nicht die Ursachen. Wir schauen vor allem nach genetischen Ursachen. Wir gucken nach Geburtskomplikationen, Frühgeburtlichkeit. Das sind die Hauptsachen. Alles andere ist wirklich sehr selten.

Dysfunktion des kortikostriatalen Schleifenmechanismus

Axel Enninger: Weiß man pathophysiologisch, was sich da im Hirn abspielt?

 

Jan Frölich: Man weiß das eigentlich sehr gut. Ich werde aber immer wieder gefragt, ob es beispielsweise auch irgendwelche klinisch validen Labortests gibt, die letztendlich im Blut, Urin oder in peripheren Flüssigkeiten dieses Störungsbild abbilden können. Nein, das geht nicht. Wir haben eine gute Diagnostik, über die wir vielleicht gleich noch sprechen können. Im Grundsatz weiß man, es ist eine Dysfunktion, eine Fehlfunktion des sogenannten kortikostriatalen Schleifenmechanismus. Kortex, Frontalhirn: Planungsfähigkeit, Impulskontrolle, Gedächtnisprozesse. Striatum, also Basalganglien: motorische Kontrolle, motivationales System. Das ist ein rückgekoppeltes System, letztendlich sehr komplex, dopaminerg innerviert. Da liegt die Problematik, sei es im Frontalhirnbereich, sei es im Bereich der Basalganglien: Es ist eine Dysfunktion. Man muss davon ausgehen, dass es an einer dieser Stellen in diesem Schleifenmechanismus eine Dysfunktion gibt, die entweder dann zu Hyperaktivität / Impulsivität führt oder zu einer reinen Aufmerksamkeitsstörung. Es gibt verschiedene Unterformen.


Axel Enninger: Die Tatsache, dass verschiedene Hirnareale beteiligt sind, ist auch die Erklärung dafür, dass die Symptomatologie ein bisschen unterschiedlich sein kann?


Jan Frölich: Ganz genau, wobei man dazu sagen muss, dass es auch hier genetische Untersuchungen gibt, sodass man durchaus sagen kann, dass es sehr unterschiedliche Unterformen gibt: Den Träumertypus, den hyperaktiv-impulsiven Typus, den Mischtypus. Man ist sich gar nicht sicher, ob das wirklich eine genetische Grundlage hat. Man kann aber schon davon ausgehen, dass man bei jemandem, der zum Beispiel nur aufmerksamkeitsgestört ist, im Regelfall eine Frontalhirndysfunktion vorhanden ist. Bei denjenigen, die impulsiv-hyperaktiv sind, hat man eher im Bereich der Basalganglien eine Problematik. Es lässt sich leider nicht klinisch zuordnen. Wir wissen es aber durch eine Vielzahl von Grundlagenstudien.

 

Axel Enninger: Den genetischen Test auf ADHS gibt es noch nicht?

 

Jan Frölich: Nein, den gibt es leider nicht. Trotzdem ist es sehr wichtig. Weil der Anteil der Genetik mit 80 % so hoch ist, gehört es unbedingt zur Anamnese dazu. Es ist nach wie vor eine klinische Diagnostik, über die wir ja gleich noch sprechen werden.

 

Axel Enninger: Also, wenn es den Test und die genetische Testung nicht gibt, die wir mittlerweile bei ganz vielen Erkrankungen haben, müssen wir uns ganz klassisch dem Patienten zuwenden. Wann müssen wir denn hellhörig werden?

 

Jan Frölich: Also, ich als Kinder- und Jugendpsychiater bekomme natürlich oft Zuweisungen von Ergotherapeuten, von Kinderärzten und bin dann schon praktisch mit der Verdachtsdiagnose konfrontiert. Der Kinderarzt als solches in seiner Praxis sollte wahrscheinlich ab dem 4., 5. Lebensjahr hellhörig werden. Wir haben, wie gesagt, zwei Untertypen – eigentlich drei Untertypen – zwei Haupttypen. Der rein Aufmerksamkeitsgestörte, der wird Ihnen wahrscheinlich im Kindergartenalter nicht auffallen, höchstens im Bereich Vorschule, dass derjenige keine Lust hat, an die Vorschulaufgaben heranzugehen, dass er langsam ist. Sie finden im Kindergartenalter eher diese motorische Unruhe, und zwar situationsübergreifend – dazu sage ich aber gleich noch etwas – die Impulsivität, das heißt Frustrationsintoleranz, Stimmungsschwankungen, häufig auch mit oppositionellem Verhalten einhergehend. Das heißt, das sind so die Symptomcluster im Vorschulalter. Im Schulalter…

 

Axel Enninger: Das heißt, noch einmal, damit ich es verstehe: Die Kleinen, also die Jüngeren, fallen eher dadurch auf, dass sie so ein bisschen nerven in ihrem sozialen Kontext, weil sie so aktiv sind, sich nicht konzentrieren können.

 

Jan Frölich: Das ist ein entscheidender Punkt. Wir haben eine Symptomatik und die Symptomatik muss aber auch eine Problematik sein. Ich würde als Kinderarzt wirklich nur dann hellhörig werden, weil es so unterschiedlich ist, im Hinblick auf Unruhe, familiäre Gesichtspunkte und auch Alter. Ich würde natürlich immer nachfragen: ‚Wir sehen jetzt hier die Unruhe. Ist sie auch in anderen Situationen da und ist sie störend, sei es im Kindergarten, Sozialverhalten, Regelverhalten, sei es bei Ihnen zu Hause?‘ Erst dann, wenn dies bejaht wird, sage ich: ‚Okay wir müssen einmal genauer nachschauen.‘

 

Axel Enninger: Das heißt, wenn die Umgebung, der Kindergarten, auch die Familie zuhause sagt: ‚Na ja, der ist eben so aktiv. Ich kenne das von mir. Ich war als Kind auch so, aber es ist okay.‘ Dann ist es auch okay?

 

Jan Frölich: Das ist eine spannende Frage, weil wir natürlich schon Patienteneltern haben, die das gewohnt sind oder als Kind selbst die Problematik hatten und das letztendlich mit einem relativ dicken Fell ertragen. Dann würde ich trotzdem immer noch einmal nachfragen, wenn ich es als Diagnostiker, als Arzt, sehe, dass er ganz schön unruhig ist: ‚Für Sie zuhause ist es in Ordnung, aber wie sieht es im anderen Kontext aus, beispielsweise im Kindergarten, wenn er Regeln einhalten muss, im Stuhlkreis beispielsweise?‘ Wenn dann die Antwort kommt: ‚Ja, in anderen Situationen ist es schon problematisch, aber für uns ist es noch okay‘, dann würde man natürlich trotzdem sagen: ‚Also, wir sollten vielleicht einmal an dieses Störungsbild denken.‘

 

Axel Enninger: Das ist wahrscheinlich wie bei ganz vielen Symptomen. Manchmal denkt man, warum kommen die Eltern denn jetzt, bei diesen vermeintlich eigentlich kleinen Symptomen oder nicht sehr ausgeprägten Symptomen? Wahrscheinlich gibt es das umgekehrt genauso, dass sie erstaunlich viel ertragen und das soziale Umfeld denkt: ‚Mein Gott, was ist mit dem Kind los?‘

Motivationales Störungsbild mit Spots, wo Konzentration möglich ist

Jan Frölich: Genau. Man muss vielleicht noch einmal eines relativieren – wir werden häufig gefragt, damit konfrontiert, seitens der Eltern. Da würde ich schon sagen, dass die meisten nicht zum Dissimulieren neigen. Die meisten sehen die Symptomatik vielleicht nicht als problematisch, weil sie sich besser darauf einstellen können. Aber ganz häufig sagen die Eltern: ‚Also, der Kinderarzt oder wir selbst denken, es kann keine Aufmerksamkeitsstörung, weil in dem und dem Bereich oder in der und der Situation kann er sich ja gut konzentrieren und ist eben auch ruhiger oder situationsangemessen.‘ Da kann man nur darauf antworten: Das schließt das Störungsbild auf keinen Fall aus. Kinder mit ADHS haben durchaus Spots, also sehr motivationsorientierte Verhaltensweisen oder Dinge, die sie gerne machen, bei denen sie keine Symptomatik zeigen. Das kann übrigens auch im Eins-zu-Eins-Kontakt sein, wo eine bessere Struktur vorhanden ist. Gruppenstruktur oder Gruppenkontext ist eher schwieriger. Es ist durchaus natürlich sehr häufig, dass uns die Eltern sagen: ‚Na ja, also, wenn er spielt, bei Dingen die ihm Spaß machen, dann bleibt er ohne Ende dran.‘ Das schließt das Störungsbild nicht aus. Es ist ein motivationales Störungsbild. Es geht hier um das Dopamin. Das heißt, es gibt sehr viele Menschen mit ADHS, die sich bei Dingen, die ihnen Spaß machen, extrem gut konzentrieren können, keine Symptomatik zeigen, aber wir fragen dann immer: ‚Wie ist es im Alltag? Wie ist es bei den Dingen, die ihm nicht Spaß machen, Regelanforderungen?‘ Darauf achten wir. Das schließt es nicht aus – ein ganz wichtiger Punkt.

 

Axel Enninger: Okay, also das finde ich auch noch einmal wirklich sehr spannend. Das heißt also, wenn ich bestimmte Dinge toll finde, gut findet, daran Spaß habe und mich gut dabei konzentrieren kann, heißt es nicht, der kann es nicht haben?

 

Jan Frölich: Ganz genau. Und das wird häufig dann doch gesagt, wenn die Eltern mit den Kinderärzten oder anderen erzieherischen Personen sprechen, auch Professionellen, die sich mit dem Störungsbild nicht gut auskennen. Da kann man nur zurufen: Nein, es wäre ein Fehler zu sagen, in zwei, drei Dingen, die ihm Spaß machen, geht es gut. Das schließt es klar nicht aus, weil es eine motivationale Störung ist. Es gibt durchaus, das darf ich vielleicht noch kurz sagen, das Vollbild „hyperkinetische Störung“. So jemand kann sich nirgendwo konzentrieren, da kann es so motivational sein, wie es will, aber das ist eher die Minderzahl.

 

Axel Enninger: Jetzt werden Sie ja häufiger mit dieser Frage konfrontiert. Geben Sie uns doch bitte einmal einen kleinen Einblick in Ihre kinder- und jugendpsychiatrische Trickkiste.

Was fragen Sie denn? Fragen, die Sie besonders wertvoll finden, die vielleicht auch der Kinder- und Jugendarzt in seine Praxis adaptieren kann?

Normale Regelabläufe automatisieren nicht

Jan Frölich: Letztendlich haben wir diesen hyperaktiv-impulsiven Komplex schon benannt. Der ist sehr auffällig. Daher muss ich eher bei den Aufmerksamkeitsstörungen, also die keine Hyperaktivität und Impulsivität haben, genauer nachfragen. Diese Kinder werden auch im Vorschulalter meist nicht vorgestellt, sondern erst ab erste, zweite Klasse. Nochmals: Es geht um die nicht-motivationalen Abläufe. Da wird beispielsweise gefragt: ‚Wie sieht es im schulischen Bereich aus?‘ Da muss ich mir das Zeugnis vielleicht einmal anschauen. Wie ist es, wenn er dranbleiben soll? Macht er Leichtsinnsfehler? Schaut er genau hin oder nicht? Geht er mit einer Arbeitsplanung heran? Vergisst er relativ viel? Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Die Vergesslichkeit wird oft nicht als Kernsymptom genannt, aber das Arbeitsgedächtnis ist häufig sehr stark betroffen. Die Eltern sagen häufig: ‚Drei Aufträge auf einmal können wir nicht nennen. Es geht nur ein Auftrag, den er ableisten muss und dann der nächste.‘ Das hängt mit der Aufmerksamkeitsstörung zusammen. Wir fragen natürlich nicht nur zum schulischen Bereich. Ich frage immer, wenn ich es im Zeugnis sehe, dass Symptome vorhanden sind, als Nächstes zum Abgleich zur Hausaufgabensituation: ‚Kann er die alleine machen? Geht er von selbst ran?‘ Thema motivationale Störung: ‚Hat er einen Plan in irgendeiner Form, wie er das macht?‘ Dann sagen die Eltern, wenn eine ADHS-Symptomatik vorliegt, ganz häufig: ‚Er schiebt es bis zum Gehtnichtmehr. Es geht nicht alleine, weil er ablenkbar ist. Er braucht extrem lange.‘ Thema Arbeitsgeschwindigkeit: Das ist ein ganz klarer Hinweispunkt. Es gibt natürlich den Hyperaktiv-Impulsiven, der sich selbst überholt, aber die meisten Betroffenen würden über sich selbst sagen, wenn sie etwas älter sind, oder die Eltern sagen es, dass er innerlich oder äußerlich abgelenkt ist, dass er einfach unglaublich viel Arbeitsgeschwindigkeit verliert und – mit anderen Worten – mit den Arbeiten nicht fertig wird.

Und dann noch der nicht-schulische Bereich, dazu sollte immer gefragt werden: ‚Wie ist es denn, wenn er morgens fertig werden soll?‘ Da sagen viele Eltern: ‚Das geht alleine nicht. Er verliert sich, er bleibt irgendwo hängen. Er hat zwar den Auftrag, aber es automatisiert nicht.‘ Ganz normale Regelabläufe automatisieren nicht und das setzt sich dann eigentlich über den Tag hinweg fort.

 

Axel Enninger: Das heißt, so ganz banale Geschichten: ‚Das Frühstück ist fertig. Kannst du dir jetzt die Zähne putzen, die Hände waschen, deine Jacke holen, die Schuhe anziehen und dich für die Schule fertigmachen?‘

 

Jan Frölich: Das geht überhaupt nicht. Das hängt natürlich immer davon ab, ob die  Symptomatik leicht, mittel oder stark ausgeprägt ist. Aber selbst bei einer mittelgradigen Symptomatik würden die Eltern antworten: ‚Wir haben ein hohes Maß an Coaching, um ihn auf der Spur zu halten.‘ Das ist häufig auch das Anstrengende, was dann auch sekundär diese Interaktionsproblematik ausmacht. Daran kann man es im Grunde sehen. Da können wir direkt nachfragen: ‚Okay, ist es für Sie in Ordnung so, wenn Sie da so lange sitzen, oder ist es für Sie nicht auch eine Belastung?‘ Daran kann man schon auch den Schweregrad feststellen.

 

Axel Enninger: Sie kriegen also sozusagen ihre Jobs nicht fertig, weil sie sich nicht konzentrieren können, auch die Motivation nicht hinkriegen, sich überhaupt hinzusetzen. Das kennen aber wahrscheinlich alle Eltern, dass ihre Kinder keine Lust auf Hausaufgaben haben und das schieben und schieben. Sie sagen aber, das ist schon so, dass a) der Kram nicht fertig wird und b) es die ganze Familie nervt, weil man immer hinterher sein muss, oder?

 

Nur eine Symptomatik oder auch eine Problematik?

Jan Frölich: Das ist der entscheidende Punkt. Ich sehe das genauso wie Sie, dass man sagen kann: ‚Na ja, es ist eine dimensionale Problematik. Welches ältere Kind, vor allem Jugendliche, hat diese Problematik nicht? Der entscheidende Punkt ist letztlich wirklich, dass wir da nachfragen müssen. Also Problematik? Auf der Interaktionsebene wegen des hohen Maßes an Coaching und auch Streit natürlich, der dadurch zustande kommt. Hängt der Familienfrieden schief? Zweiter Punkt ganz klar: Bei der Hyperaktivitäts-Impulsivitäts-Problematik haben Sie natürlich eher die Sozialverhaltensprobleme, aber die rein Aufmerksamkeitsgestörten haben natürlich spätestens ab der 2. / 3. Klasse erhebliche Schulleistungsprobleme. Eigentlich sind es, intellektuell gesehen, oft ganz normal entwickelte Kinder, aber dass Zweier bis Dreier und Vierer geschrieben werden? Das heißt, das Leistungspotenzial kann nicht zum Vorschein kommen. Der dritte Aspekt ist natürlich ganz klar, dass wir fragen: ‚Wie ist der Leidensdruck?‘ Beim Kind, aber auch bei den Eltern – der systemische Blick bei diesem Störungsbild auch auf die Kinder: ‚Was müssen Sie tragen? Wie viel coachen Sie den ganzen Tag? Halten Sie das aus?‘ Das ist ein entscheidender Punkt. So kommen Sie dann auch darauf zu sagen, ob es nur eine Symptomatik oder eine Problematik ist.

 

Axel Enninger: Schule ist das eine. Wie ist es denn in der Freizeit?

 

Jan Frölich: Das ist sehr unterschiedlich kann man sagen. Natürlich wird das gefragt. In jeder Hinsicht soll auch einmal gefragt werden, wie es im Freizeitbereich ist. Ich würde aber sagen, in 2/3 der Fälle, das ist meine klinische Einschätzung, haben Sie durchaus, gerade bei den einfach Aufmerksamkeitsgestörten, dort wenig bis keine Anzeichen. Da frage ich immer: ‚Hat er Freunde oder hat er, weil er so verpeilt ist, da auch so eine Außenseiterposition?‘ Eigentlich gar nicht, die Hyperaktiv-Impulsiven teilweise, aber die haben auch ihre Buddies, mit denen sie sich zusammentun, mit denen es funktioniert. Schwierig kann es sein, und das ist auch eine wichtige Kernfrage, wie es denn in sehr strukturierten Clubveranstaltungen aussieht: Fußball, Handball oder Klettern usw. Man kann grosso modo sagen: Einzelsportaktivitäten eher besser, Gruppenaktivitäten wegen Disziplin, Hyperaktivität, Impulsivität oder Konzentration schwierig. Aber noch einmal: Das kann man letztendlich nicht verabsolutieren wegen der motivationalen Ausrichtung des Störungsbildes. Es kann durchaus sein, dass es im schulischen Bereich, im Alltagsbereich wirklich desaströs läuft. Dann frage ich: ‚Wie geht es denn im Fußball?‘ ‚Da läuft es gut, da hat er einfach eine gute Möglichkeit.‘ Solche Spots gibt es einfach. Trotzdem muss es gefragt werden.

 

Axel Enninger: Das kann aber schon durchaus sein, dass auch der Fußballtrainer sagt: ‚So läuft es hier gar nicht. Dem sage ich x-mal, dass wir jetzt Übungen machen und der Kerl oder das Mädchen macht es aber nicht.‘

 

Jan Frölich: Ganz genau, das ist ganz häufig. Man kann dann fast schon fragen: ‚Wie viele Sportvereine oder Sportaktivitäten hat er schon durch?‘ Es bleibt meist nicht bei einer Aktivität, weil die Betroffenen einfach auffällig sind und dann immer wieder Kritik bekommen oder der Trainer von selbst sagt: ‚Lassen Sie es. Es ist zu früh. Es hat so keinen Sinn. So kann er sich nicht integrieren.‘ Oder aber auch hier noch einmal: motivationales System, selbst wenn ich in einer Sportart begabt bin, kommt es irgendwann vom Spaß auch zum Üben. Da könnte diese motivationale Dysfunktion wieder zum Vorschein kommen: ‚Ach wie – üben soll ich jetzt auch noch? Also das mache ich nicht. Dann breche ich es ab.‘ Beide Gesichtspunkte spielen hier eine Rolle.

 

Axel Enninger: Spannend. Wechselnde Sportvereine nicht als „Red Flag“, aber vielleicht orange Flagge.

 

Jan Frölich: Das kann man sagen, absolut.

 

Axel Enninger: Sie haben es vorhin schon gesagt, in der Freizeit: Fallen sie irgendwie in ihren Peergroups auf oder kann man das so gar nicht sagen?

 

Jan Frölich: Doch, man kann es schon sagen. Daher ist es auch schon wichtig, das zu fragen. Ich würde sagen, die einfach Aufmerksamkeitsgestörten, wenn das nur mittel- oder leichtgradig ausgeprägt ist, haben ihre Freunde, sind gut integriert. Die schwergradig Ausgeprägten sind oft auch in den allgemeinen Alltagsabläufen langsam und die bekommen häufig negative Rückmeldungen von der Peergroup: ‚Du checkst es ja gar nicht. Du bist so langsam. Was ist denn mit dir?‘ Da sind also stark negative Rückmeldungen, aber das ist eher seltener. Die Hyperaktiv-Impulsiven sind diejenigen, die nicht zu den Geburtstagen eingeladen werden oder nur Einzelfreunde haben. Sie tun sich schon sehr schwer, muss man ganz klar sagen.

 

Axel Enninger: Mit entsprechendem Leidensdruck?

 

Jan Frölich: Das finde ich eine sehr spannende, interessante Frage bezüglich des gesamten Störungsbildes. Wir behandeln in unserer Praxis ja auch andere Störungsbilder – Angststörungen, Depressionen usw. Die sogenannten ADS-ler oder ADHS-ler haben häufig keinen Leidensdruck. Sie verdrängen die Symptomatik. Man könnte sich psychodynamisch vorstellen: ‚Ich kriege so viel Kritik. Da blende ich das aus und verdränge es.‘ Es ist aber auch durchaus möglich, dass wir… Wir gehen ja zum Beispiel von einer Konzentrationsstörung aus. Die ist leistungsbezogen, aber die ist auch körperwahrnehmungsbezogen oder sozialbezogen. Ich bekomme es gar nicht so mit. Das heißt, es ist wahrscheinlich eine Mischung und das macht die Behandlung dieses Störungsbildes mit dem Kind, dem Jugendlichen extrem schwer, weil es große Verdränger sind und es immer über die Eltern kommt. Erst so ab dem jugendlichen Alter kommt da eine Bewusstheit: ‚Da ist etwas bei mir. Ich muss damit sorgsam umgehen.‘ Das dauert aber erfahrungsgemäß sehr, sehr lange. Es ist also aufgrund der Selbstwahrnehmungsproblematik sehr schwer zu behandeln.

 

Axel Enninger: Selbstwahrnehmungsproblematik ist ja auch noch so ein Stichwort. Selbst- und Fremdwahrnehmung bei unseren Kindern und Jugendlichen zum Thema „Mediennutzung.“ Wir Eltern denken häufig, dass unsere Kinder eigentlich permanent an irgendeinem Bildschirm hängen. Wenn man die Jugendlichen fragt, sagen sie: ‚So häufig ist es doch gar nicht!‘ Medienkonsum, hatten wir vorhin schon gesagt, ist aber ein großes Thema, wo man hinschauen muss?

Gefährdeter für exzessiven Medienkonsum

Jan Frölich: Es ist ein großes Thema. Generell muss man auch noch einmal darauf Wert legen, dass durch die Coronapandemie und den Lockdown – da gibt es weltweit sehr gute Studien weltweit mittlerweile – der Medienkonsum extrem nach oben gegangen ist, und zwar unabhängig von ADHS. Man muss aber auf einen Gesichtspunkt sehr stark Wert legen. Die Subgruppe oder Untergruppe der ADHS-ler ist deutlich gefährdeter, in den Missbrauch hineinzugehen, also auch in den Suchtbereich hineinzugehen. Die Prävalenzen sagen aus, dass es bis zu doppelt so häufig ist wie bei Nichtbetroffenen. Warum ist es so? Es kann durchaus sein, dass sie da gut sind, beim Computerspielen beispielsweise, also eine Meisterschaft haben. Es kann durchaus sein, dass sie keine Buddies haben. Mit anderen Worten: Sie kommunizieren eher über die sozialen Medien. Im Grundsatz ist diese Gruppe der ADHS-ler aber noch einmal gefährdeter. Man kann ganz klar sagen und die Studien sagen das auch aus, dass die Symptomatik bei einer schon zugrundeliegenden ADHS durch einen weiteren Missbrauch im Rahmen von digitalen Medien noch einmal sehr stark zunehmen kann. Da muss man einen Gesichtspunkt sehr stark nennen: den Schlaf. Häufig Missbrauch digitaler Medien, also gerade im jugendlichen Alter, abends zu spät ins Bett gehen, unausgeschlafen sein, noch mehr ADHS-Symptome produzieren. Das gilt auch nicht für die Nichtbetroffenen, aber bei denen sehen wir es natürlich häufiger noch einmal.

Fragebogen-Screening zur Absicherung der Verdachtsdiagnose

Axel Enninger: Jetzt haben Sie uns darauf hingewiesen, worauf wir achten, was wir fragen sollten. Dann sagen wir, ja, der Verdacht ist relativ hoch ist, dass der Patient ADHS hat und schicken ihn zu Ihnen. Da gibt es erst einmal eine lange Wartezeit. Gibt es Dinge, die man im Vorfeld machen kann oder machen muss? Erwarten Sie von dem niedergelassenen Kinder- und Jugendarzt eine bestimmte organische Basisdiagnostik, irgendeine Labordiagnostik oder so etwas?

 

Jan Frölich: Nein. Eine Sache will ich noch komplettieren, und zwar: Wenn ich den Verdacht habe, sollte ich auf jeden Fall ein Fragebogen-Screening-Verfahren durchlaufen lassen. Es gibt sehr gut normierte Fragebogen-Verfahren, Screenings bezüglich der Kernsymptomatik. Dann vergebe ich einen an die Eltern und einen an Erzieher oder an die Lehrer, werte es aus und sehe dann, okay, gibt es einen Abgleich mit meiner Anamnese oder meinem klinischen Eindruck

zusätzlich zu dem, was die Fragebögen sagen. Das gibt noch einmal eine zusätzliche Sicherheit, obwohl es natürlich keine Fragebogen-Diagnostik ist.

 

Axel Enninger: Das ist also das, was Sie möchten, dass der Kinder- und Jugendarzt vorher schon einmal macht?

 

Jan Frölich: Ja. Gott sei Dank haben wir jetzt mehr Kinderärzte, die das machen, wo ich im Grunde die Erstvorstellung habe und bereits sehe, dass der Fragebogen ausgefüllt wurde, was sehr hilfreich ist und was für den Kollegen oder die Kollegin, die im kinderärztlichen Bereich arbeitet, einfach eine wirklich große Sicherheit sein kann, okay, das liegt über dem Cut-off. Es sind wirklich gut normierte Fragebögen. Es macht Sinn, den wirklich vorzustellen, ohne den allein zugrunde zu legen. Wenn ich also nicht die Anamnese mache, wenn ich mir den nicht anschaue und nur einen Fragebogen durchgehe, dann würde ich sagen, dass es auch zu wenig ist. Man muss es zusammenbringen.

 

Axel Enninger: Da muss ich noch einmal einhaken. Wo gibt es den Fragebogen?

 

Jan Frölich: Ich weiß nicht, ob ich jetzt Werbung machen darf.

 

Axel Enninger: Wir dürfen keine Werbung machen, aber wir können, wenn man den irgendwo downloaden kann, neudeutsch sagen, dass wir den Downloadlink in die Shownotes verlinken und dann kann man das dort anschauen.

 

Jan Frölich: Der Fragebogen heißt FBB-ADHS, Fremdbeurteilungsbogen ADHS – das kann man beispielsweise auch einmal googeln – Vorschulalter, Schulalter, Jugendlichenalter, Eltern, sowohl Selbsteinschätzung als auch Lehrereinschätzung. Das kann man beispielsweise sehr gut über den Hogrefe Verlag beziehen. Ich weiß nicht, ob man ihn alleine isoliert beziehen kann. Es ist meist ein Komplex verschiedener Fragebögen, aber Kinderärzte haben heute ja auch mit verschiedenen anderen Angststörungen und so weiter zu tun. Es macht Sinn, sich so ein Fragebogeninventar zuzulegen, und es ist bezahlbar.

 

Axel Enninger: Sozusagen als Hinweis: Ich als Kinder- und Jugendarzt denke also aufgrund der Fragen aus einer gewissen klinischen Erfahrung: ‚Ja, der könnte ADHS haben.‘ Nächster Schritt ist, ich besorge mir diesen Fragebogen, gehe den Fragebogen durch und denke dann: ‚Ja, ich liege nicht schlecht mit meiner Idee.‘ Dann versuche ich, einen Termin beim Kinder- und Jugendpsychiater zu vereinbaren.

Basisdiagnostik, ansonsten organmedizinische Diagnostik klein halten

Jan Frölich: Ja, aber noch einmal zurück zu Ihrer Frage. Mache ich organmedizinische Diagnostik? Die sollte man im Regelfall klein halten, weil die organischen Differentialdiagnosen wirklich selten sind. Ich würde mich natürlich freuen, wenn man ein Blutbild, einen Schilddrüsenwert oder einen Eisen-Ferritin-Spiegel hat, aber im Grunde ist es eine Basisdiagnostik. Ein EEG würde man eher machen, wenn beim Kinder- und Jugendpsychiater ein Verdacht da ist. Oder ich würde ihn dann zum Kinderneurologen vom Kinderarzt schicken, also im Grunde eine Basisdiagnostik. Man fragt vielleicht ein bisschen nach Schlafapnoe. Hat er große Tonsillen, dann würde man noch mal zum HNO-Arzt schicken. Im Regelfall sind es aber zwei, drei basisdiagnostische Maßnahmen und dann geht es direkt zum Kinder- und Jugendpsychiater.

Die Diagnose beim Kinder- und Jugendpsychiater

Axel Enninger: Der macht dann was?

 

Jan Frölich: Ja. Das ist ein… – insofern ist der Begriff „Modediagnose“ etwas, das den Kinder- und Jugendpsychiater ein bisschen ärgert – wenn man gewissermaßen gescheit diese Diagnostik macht, ist es ein hoher Work-up, ein hoher Aufwand. Sie müssen davon ausgehen, wenn man es leitlinienbezogen macht, und es gibt diesbezüglich eine wirklich gute Leitlinie, ist es ein Aufwand – mit Auswertgespräch, Anamnese, Testungen – von 3 bis 4 Stunden. Das heißt, suchen Sie mal die organmedizinische Diagnostik, wo man so einen Aufwand hat. Im Regelfall hat das also Hand und Fuß. Was macht man? Man lädt das Kind zusammen mit den Eltern – Vater, Mutter – zum Gespräch ein, macht die Anamnese mit dem Kind zusammen oder getrennt voneinander. Man sieht natürlich auch schon im Untersuchungszimmer, ob Auffälligkeiten da sind. Ist er unruhig, fängt er an, das Zimmer zu explorieren, geht er an die Ritterburg nebendran oder redet er dazwischen – Impulskontrolle – träumt er weg? Das ist aber natürlich nur eine Einzelsituation. Das reicht im Regelfall nicht aus, obwohl wir von einer klinischen Diagnose sprechen. Mit anderen Worten sammeln wir Beobachtungen, die Anamnese, die wir gerade angesprochen haben, von der Geburt an bis zu einer Belastung.

Am Schluss dieser ersten Stunde kommt dann: ‚Was ist der Auftrag, den Sie uns geben?‘ Im Regelfall wird es von den Eltern klar formuliert: ‚Wir wollen klären, ob es eine Aufmerksamkeitsstörung ist.‘ Im Regelfall sehe ich das Kind noch selbst alleine eine halbe Stunde, auch um zu schauen, inwieweit die Belastung da ist – Stichwort Komorbiditäten. Dann kommt es zu einer testpsychologischen Untersuchung. Da muss man mit einem Missverständnis aufräumen. Es gibt nicht den sogenannten ADS-Test, sondern es gibt bei uns, aber auch von vielen Kollegen gemacht, eine neuropsychologische Untersuchung, im Regelfall Intelligenztests, wobei Sie beim Intelligenztest – Überforderung, Unterforderung – schon einiges sehen können.

Uns interessiert hier häufig aber auch das Binnenprofil. Die Arbeitsgeschwindigkeit ist gut normiert und überprüfbar, auch das Arbeitsgedächtnis. Dann gibt es eine Batterie neuropsychologischer Verfahren – langweilig, stinklangweilig. Wenn wir sehen, dass er ordentlich mitmacht, also nicht besonders motiviert ist oder untermotiviert ist, kommen Sie schon auch normbezogen zu einem validen Ergebnis in Abgleich zu dem, was anamnestisch oder von Ihrem klinischen Eindruck her da ist. Danach, das sind so ungefähr noch einmal 2 Stunden, wird ein EEG bei uns mitgemacht. Die Leitlinie sagt, man sollte es machen. Es ist nicht unbedingt notwendig aus meiner Sicht, sondern nur bei Indikation. Anschließend machen wir ein Auswertgespräch, und es ist sehr wichtig, dass wir das Auswertgespräch relativ ausführlich machen. Da braucht man eine Dreiviertelstunde dafür, um noch einmal die Symptomatik, die Befunde zu erklären und dann mit den Eltern zu besprechen: ‚Was wollen Sie?‘

 

Axel Enninger: Lassen Sie mich noch einmal ein paar Fragen zur Diagnostik stellen. Erstens: Die Leitlinie ist frei verfügbar. Auch die schreiben wir zum Nachlesen in die Shownotes.

 

Jan Frölich: Einfach nur AWMF online eingeben, ADHS, aber die neue Fassung 2017!

 

Axel Enninger: Genau, aber die schreiben wir auch herein zum Nachlesen. Habe ich das richtig verstanden, dass Sie sagen, allein aus der Tatsache, wenn einer 2 Stunden so einen Fragebogen beziehungsweise so einen Test gut mitmacht, sich dauerhaft konzentrieren kann, das zügig macht, allein auch aus der Art und Weise, wie so ein Test gemacht wird, dass das auch zählt? Es zählen also nicht nur die Antworten, sondern auch die Art und Weise, wie er es macht?

 

Jan Frölich: Ganz genau. In der Erstsituation exploriere ich und schaue ihn mir an, auch letztendlich mit den Eltern zusammen. Es ist aber noch nicht valide. Wir wollen ja abgleichen. Angeblich sei er unkonzentriert bei den Hausaufgaben, in der Arbeitssituation. Wir schauen uns das an in der Verhaltensbeobachtung, ob er wirklich unkonzentriert ist. Die Aufgabe ist ziemlich langweilig, auch anstrengend. Antwortet er impulsiv aus der Pistole geschossen oder macht er eine gute planmäßige Arbeit? Arbeitet er langsam? Muss ich ihn zurückholen zur Arbeit? Die Verhaltensbeobachtung gibt schon einen guten Eindruck, wobei wir natürlich auch immer sagen, dass es eine Laborsituation ist. Mit anderen Worten: Wir können hier nicht 20 Hansel aus der Klasse holen, wo es ausgeprägter ist. Wenn wir es aber in der Situation feststellen, ist es sehr sicher.

Lassen Sie mich noch einen Punkt sagen. Für den Kinderbereich, würde ich sagen, ist die Verhaltensbeobachtung sehr valide. Im Jugendlichenbereich wird es deutlich schwerer, weil die Symptomatik versteckter zum Vorschein kommt und wir dann wirklich in die inhaltlichen Testergebnisse hineinschauen müssen. Ich muss vielleicht auch dazu sagen: Ich mache es jetzt seit ungefähr 20 Jahren. Wenn ich eine Erstvorstellung von einem 17-Jährigen oder 16-Jährigen habe, sehe ich ihm das nicht mehr an. Die Symptomatik ist so mitigiert, so versteckt, dass man fragen kann: ‚Was sagst du? Was gibst du selbst an?‘ Das heißt, ich muss auf den Patienten hören und schaue mir dann die Tests an, die er inhaltlich bewältigt hat. Vom Kinderbereich zum Jugendlichen-, Erwachsenenbereich gibt es da also schon Unterschiede.

 

Axel Enninger: Das heißt, Sie sammeln Bausteine a) aus der Anamnese, b) aus dem Testergebnis, aber auch aus der Beobachtung, wie der Test durchgeführt wird. Das heißt, diese Bausteinchen sammeln Sie sich zusammen und dann setzen Sie sich gemeinsam mit Patient und Eltern hin. Wie geht es dann weiter?

Die Diagnose kann ein Schock sein: In Ruhe die Optionen besprechen

Jan Frölich: Ganz genau. Das ist das, was ich den Leuten auch immer sage. Wir haben natürlich den Test, aber es ist ein Mosaik verschiedener Auffälligkeiten, die im Idealfall mehr oder weniger zusammenpassen. Danach wird die Besprechung durchgeführt und da ist es sehr unterschiedlich. Da muss man sehr vorsichtig sein bei den Patienten. Viele ahnen es letztlich schon, aber für viele ist es doch so eine Art Schock. Daher sollte man nicht gleich darauf abzielen: ‚Das ist ein Störungsbild, das wissen Sie schon, dass es in 60–80 % schwerwiegende Komorbidität hat?‘

 

Der Duktus sollte eigentlich eher sein, ja, es ist eine Aufmerksamkeitsstörung, aber noch einmal den Reifungskontext des Störungsbildes in den Vordergrund zu stellen. Es wird besser.

Auf der anderen Seite sage ich den Leuten aber: ‚Bitte gehen Sie jetzt hier nicht heraus und sagen: Ach, der Frölich sagt doch, dass es eine Reifungsstörung ist. Da warten wir es doch einmal ab.‘ Nein, wir können es nicht abwarten, wir müssen letztendlich etwas tun. Das ist natürlich individuell sehr unterschiedlich. Mit anderen Worten: Reifungskontext, Folgeprobleme identifizieren. Der entscheidende Punkt ist, die Schrittmacher sollten die Eltern sein. Dass man fragen muss: ‚Wozu wären Sie denn bereit?‘ Es wird dann noch einmal durchgegangen: ‚Wir haben die Aufmerksamkeitsstörung schon, die ist mittel oder stark ausgeprägt. Wir haben die und die Problematik. Die haben Sie ja auch gut geschildert. Wir haben sie nachvollzogen. Wie stark sind Sie belastet?‘ Dann werden im Grunde die zur Verfügung stehenden Maßnahmen erst einmal durchgenommen, phänomenologisch einfach besprochen und dann die Eltern gefragt: ‚Wozu wären Sie denn bereit?‘ Weil sie sich sonst doch sehr stark zu einer Medikation hingezogen fühlen würden. Da muss man vorsichtig sein, obwohl sie natürlich eine große Rolle spielt.

Elternberatung, Elterntraining, Lehrer ins Boot holen

Axel Enninger: Was sind denn die Optionen? Was können Sie denn anbieten?

 

Jan Frölich: Im Regelfall ist es natürlich so, dass die Basis letztendlich die pädagogische Arbeit ist. Es geht darum, den Eltern mitzuteilen: ‚Hören Sie, das Störungsbild müssen Sie akzeptieren. Wenn Sie es selbst nicht haben, ist das für Sie natürlich ein Junge oder Mädchen von einem anderen Stern, aber er hat das und kann primär nichts dafür. Wenn er sauer ist, kannst du natürlich sagen, dass er in die Opposition geht, aber im Grundsatz ist es eine Anlage, für die er nichts kann, wo er letztendlich Hilfe braucht. Regen Sie sich bitte nicht die ganze Zeit auf. Natürlich kann man sich auch einmal aufregen, aber sehen Sie es mit einer gewissen Gelassenheit und letztendlich mit einer langen Puste.‘ Das ist der erste Schritt.

Der zweite Schritt ist ganz stark, bevor ich überhaupt an medizinische Maßnahmen denke: ‚Was können Sie als Eltern machen?‘ Stichwort Elternberatung, Elterntraining. Darüber gibt es –verschiedene Formen – sehr guter Literatur und über das Internet mittlerweile, auch Eltern-Trainings-Verfahren, sodass die Eltern als Erstes so ein bisschen die „Bedienungs- oder Bauanleitung“ ihres Kindes noch einmal besser kennenlernen. Da gibt es Eltern, die sind wirklich schon sehr fix. Die machen es intuitiv gut. Andere haben gesagt: ‚Das öffnet uns jetzt ganz anders den Horizont. Wir machen es jetzt im Elternbereich.‘ Was bringt das? Das bringt häufig neben der Akzeptanz, dass letztendlich Feuer aus dem Kessel genommen wird. Es bringt oft eine Verbesserung der Interaktion. Wenn ich sage, das Grundprinzip ist erstens Coaching, also viel Struktur und zweiter Punkt ist, an das motivationale System heranzugehen – Belohnung, leichte Sanktion – können Sie dadurch im Bereich des Sozialverhaltens, der Impulskontrolle, des Regelverhaltens viel oder einiges hinbekommen. Wichtig ist, dass wir die Lehrer mit im Boot haben. Auch die müssten im Grunde so eine Art „Briefing“ erhalten. Wir leben im Zeitalter des Nachteilsausgleichs, das heißt, entweder spreche ich mit dem Lehrer oder er kriegt ein Attest, auf was er achten möchte, sodass wir den mit im Boot haben. Dann werden eigentlich auch erst Behandlungsmaßnahmen mit dem Kind aufgebaut.

 

Axel Enninger: Aber das heißt, dass es erst einmal Coaching gibt, wie gehe ich damit um, Struktur schaffen. Es kann durchaus sein, dass es Patienten gibt, bei denen Sie sagen: ‚Ja, die Diagnose ist klar, aber wir kommen jetzt erst einmal damit klar oder wir geben uns einen bestimmten Zeitraum und gucken, ob das so ausreicht.‘ Oder machen wir gleich etwas anderes?

 

Jan Frölich: Ja, das ist gar nicht so selten. Je jünger die Kinder sind, desto eher. Im Vorschulalter ist es fast immer der gängige Weg. Die meisten kommen so im Alter von fünf, sechs und Sie sagen: ‚Jetzt machen Sie doch erst einmal ein Elterntraining. Dann sehen wir uns in einem halben Jahr wieder.‘ Viele der Betroffenen, etwa 20 Prozent, haben auch motorische Störungen. Dann sagen Sie, dass wir den Ergotherapeuten einmal mit ins Boot holen, damit der vielleicht auch so ein bisschen Strategietraining mit ihm macht, so ein wenig die Schule vorbereitet. Es ist ein bisschen langweilig, aber ich bleibe trotzdem dran, ich mache die Motorik mit dazu. Den habe ich häufig mit dabei, aber es ist letztendlich oft eher im Lower Level der Intervention, so dass wir dann schauen, wie es beispielsweise aussieht, wenn er so 6 Jahre alt ist und in die Schule kommt: ‚Jetzt machen Sie erst einmal ein Elterntraining. Wir sehen uns nach einem halben Jahr und schauen dann, wie er in die Schule hineingekommen ist.‘ Dann kommt es möglicherweise oder meist zu weiteren Interventionen.

 

Axel Enninger: Genau, das wäre ja die Frage. Kommt es dann häufig doch zu weiteren Interventionen? Da hatte ich Sie auch im Vorgespräch so verstanden, dass Sie gesagt haben: ‚Ja, das ist gut und wichtig, diese Maßnahmen und Elterncoaching, aber wir kommen doch bei vielen Patienten nicht drumherum, noch über eine andere Therapie zu sprechen.‘

Nie nur Medikation, doch die Kernsymptomatik ist nur so zu adressieren

Jan Frölich: Genau. Daher ist es ganz wichtig zu sagen, dass wir damit Feuer aus dem Kessel nehmen können, Akzeptanz bekommen, natürlich letztendlich die Interaktion auch verbessern. Bei den schwer ausgeprägten Fällen können wir das natürlich auch dadurch nicht. Da müssen wir schneller handeln, aber so bei dem mittelgradig oder leicht Ausgeprägten ist es im Regelfall der Fall. Darüber müssen wir uns klar werden, alle Studien, auch alle klinische Erfahrung sagt es: Die sonstigen nicht-medizinischen Verfahren – Verhaltenstherapie, Ergotherapie; und da gibt es gute Module, das möchte ich gar nicht infrage stellen – sie bringen im Hinblick auf die Konzentrationsfähigkeit, also die Kernsymptomatik des Störungsbildes nicht viel. Das muss man ganz klar sagen. Das sage nicht nur ich, sondern alle Studien und auch die Leitlinie sagen es. Eine Verhaltenstherapie beispielsweise ist sinnvoll, wenn ich zusätzlich eine Komorbidität habe, eine Angststörung, eine Depression zum Beispiel, dann macht es unbedingt Sinn. Aber wenn wir fragen, wie man jetzt an die Kernsymptomatik herankommt, ist es ganz klar, dass die Medikation einfach die führende Rolle spielt und auch spielen muss, weil nur diese Maßnahme – noch einmal, ganz wichtig, flankiert durch diese anderen Maßnahmen, nie nur Medikation – im Grunde die Kernsymptomatik in 80 % der Fälle so zur Remission bringt, dass auch „psychisches Überleben“ oder eine normale Sozialisation möglich ist.

 

Axel Enninger: Okay. Da reden wir konkret jetzt über was?

 

Jan Frölich: Da reden wir im Regelfall über Psychostimulanzien. Wir haben natürlich mittlerweile ein Sammelsurium oder vier Medikamente oder Substanzen, die in Frage kommen. Wir haben die Psychostimulanzien, das ist das Methylphenidat und das Amphetamin. Das sind Mittel erster Wahl. Darüber hinaus haben wir dann aber noch Atomoxetin und Guanfacin als Mittel der zweiten Wahl. Im Regelfall, in 80 bis 90 % der Fälle, kommen wir gut – das ist auch ein Signal an die Kinderärzte – mit einer differenziert titriert-individualisierten Psychostimulanzien-Medikation gut aus, die natürlich eingestellt und dauerhaft verabreicht werden muss. Es ist also ein langer Weg, der da zu gehen ist, aber wir müssen den Leuten auch immer sagen: „Einmal Ritalin heißt nicht, immer Ritalin.“ Aufgrund des Reifungskontextes des Störungsbildes würde ich sagen, dass es schon jahrelang ist, aber wir gehen in vielen Fällen im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter auch wieder heraus.

 

Axel Enninger: Ich muss die Frage noch einmal stellen: Psychostimulanz bei einem, der ohnehin schon aufgedreht ist? Warum ist das so?

 

Jan Frölich: Das ist einfach noch einmal so der Punkt. Im Hinblick auf die Wirkung der Psychostimulanzien geht man davon aus, dass sie diesen Dopamintransporter hemmen, der einfach zu schnell das Dopamin aus dem synaptischen Spalt eliminiert. Wenn der gehemmt ist, haben wir mehr Dopamin. Im Grundsatz würde man ganz klar sagen, dass es bei dem hypoaktiv Aufmerksamkeitsgestörten sehr wahrscheinlich auch der Wirkmechanismus ist. Die Dinge sind aber einfach komplexer. Es gibt durchaus gute Studien. Da ist auch dieses Thema der Rückkopplung, auch teilweise negativen Rückkopplung. Das heißt, wenn ich bei einem Hyperaktiven ein Methylphenidat-Präparat gebe, ist die Reaktion häufig, dass ich an der postsynaptischen Membran D2-Rezeptoren herunterreguliere, also letztendlich einen paradoxen Effekt induziere. Ich muss aber noch einmal sagen, dass es wirklich kompliziert ist. Man erklärt den Eltern im Regelfall diese Dopaminhypothese, aber es gibt mittlerweile auch andere Hypothesen. Es ist letztendlich ein ganz komplexes Regelwerk, in dem übrigens auch andere Neurotransmitter involviert sind, aber die gängigste ist im Grunde diese Dopaminhypothese.

Zeit nehmen für die individuell passende Medikation

Axel Enninger: Da taste ich mich dann irgendwie an die Dosis heran, titriere oder wie mache ich das?

 

Jan Frölich: Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Da wünscht man sich auch, dass die Kinderärzte da hereingehen und auch keine Scheu davor haben. Die Diagnosestellung ist wichtig, dass ich es ausführlich bespreche. Die Medikation, würde ich auch noch einmal sagen, ist eine ausführliche Angelegenheit. Da sollte ich mir einfach 20 Minuten, eine halbe Stunde nehmen, die Eltern über Wirkungen und Nebenwirkungen zu informieren, dass sie auch viel fragen. Sie wissen oft auch relativ viel und haben sich auch schon fortgebildet. Mit anderen Worten: Ich sollte da gut antworten können.

Was ich anschließend mache, das nennen wir Titrierung, das heißt, es ist ein individueller Austestversuch. Das ist missverständlich. Manche Eltern fragen dann: ‚Machen wir einen Bluttest oder machen wir dann noch einmal ein EEG oder eine Testung bei Ihnen?‘ Nein, es ist eine Verhaltensbeobachtung, aber die Verhaltensbeobachtung unter der Medikation ist sehr strukturiert. Das heißt, wenn es geht, nehmen wir einen Lehrer über Fragebögen, die auch sehr gut normiert sind, in das Boot hinein. Der soll über 3 bis 4 Wochen hinweg unter verschiedenen Dosierungen einschätzen. Die Eltern machen das Gleiche, sie notieren auch die Nebenwirkungen dazu. Dann kann ich im Regelfall einschätzen, wie ist der Patient eine Woche ohne Medikation, mit niedriger Medikation, dann mittlere, erhöhte Medikation, aber nicht im Sinne eines Einschleichens. ‚Nach 4 Wochen‘, sagen wir den Leuten, ‚wenn Sie das mit so einer Art Tagebuch durchführen, können Sie nach 4 Wochen ganz klar sagen: Hilft es etwas? Wie stark und auch in welchem Bereich? Was war die beste Dosis und wie ist die Verträglichkeit? Danach schauen wir weiter.‘ Im Regelfall, am Anfang, ist der Work-up relativ hoch. Dann sieht man das Kind nach 4 Monaten wieder, nach 6 Monaten, das heißt, 2x im Jahr. Wenn die Sache läuft, und bei vielen läuft es ja gut, ist es relativ gut integrierbar, auch im kinderärztlichen Praxisbereich.

 

Axel Enninger: Das heißt, als Erstes gibt es quasi eine Dosisfindungsstudie?

 

Jan Frölich: Ganz genau.

 

Axel Enninger: Da überlege ich mir verschiedene Dosen und am Ende dieser Phase wird dann geguckt, dabei war es am besten, und dabei bleibe ich normalerweise auch. Jetzt ist bei Psychostimulanzien immer die große Sorge, welche Nebenwirkungen zu erwarten sind. Über was klären Sie die Eltern auf? Sind vielleicht ein paar der Nebenwirkungen auch Teil des möglichen Missbrauchspotenzials? Reden wir zunächst aber erst einmal über die Nebenwirkungen, über die Sie Eltern aufklären.

 

Jan Frölich: Es ist sehr wichtig, die Eltern über die Nebenwirkungen mit im Boot zu haben. Vielleicht noch kurz ein kleiner Schlenker: Die Kinder sind ein bisschen dabei, aber da hat man letztendlich nur kleine Basics. Die Kinder sind übrigens häufig diejenigen, die gar nicht so sehr auf die Nebenwirkungen achten, sondern sich fragen: ‚Krieg ich das runter?‘ Da muss man dem Kind auch erklären: ‚Ja, du kannst es auflösen. Du könntest es letztlich im Grunde zerbröseln.‘ Im jugendlichen Alter ist es aber sehr, sehr wichtig, darüber können wir auch gleich noch sprechen, wie das Nebenwirkungsspektrum aussieht. Das heißt, der Jugendliche muss unbedingt differenziert mit aufgeklärt werden: Nebenwirkungen vorübergehend, dosisabhängig. Ich kläre im Regelfall über drei Nebenwirkungen auf. Eine Kontraindikation gibt es im Regelfall nicht, aber es könnte ein Problem geben. Die Medikamente, die wir einsetzen, sind schlafsensibel, das heißt, es sind Wachmacher. Psychische Stimulanzien können Wachmacher sein. In 20 % der Fälle können die Patienten deutlich schlechter schlafen. Das ist schwierig, weil die Symptomatik dadurch verstärkt wird. Es ist ein Appetitzügler. Das heißt, je länger auch die Wirkdauer, Retardpräparat oder höhere Dosis, habe ich einen Appetitmangel. Meist neutrales Gewicht, aber im Regelfall muss ich hier auch aufpassen. Dritter Bereich: Im Jugendlichenbereich Stimmung, Kinder eher nicht. Aber Jugendliche klagen nach meiner Erfahrung in 40 %, indem sie sagen: ‚Es hilft mir schon, aber es ist ein Downer für mich. Macht mich fremd, ich fühle mich nicht authentisch.‘

 

Axel Enninger: Das heißt, sie fühlen sich eigentlich wohler in dieser etwas übersteigerten Geschichte?

 

Jan Frölich: Interessant ist, dass ein Kind das fast nie artikuliert, Erwachsene eigentlich auch nicht. Vielleicht hängt es mit hormonellen Veränderungen zusammen, vielleicht hängt es auch mit der Zuschreibung zusammen: „Ja, ich nehme hier ein Medikament.“ Die anderen wissen es vielleicht auch und sagen beispielsweise: ‚Was nimmst du da für ein Medikament?‘ Es ist eine Mixtur von verschiedenen Zuschreibungen, die mit eine Rolle spielen, aber es ist überzufällig häufig, dass die Jugendlichen dies sagen.

Missbrauch?

Axel Enninger: Jetzt machen wir so ein kleines „Klammer-auf“: Ritalin bei Studierenden, um sich besser zu konzentrieren? Da müssen wir zumindest kurz etwas dazu sagen.

 

Jan Frölich: Da muss man etwas dazu sagen. Es wird missbraucht, wird erheblich missbraucht, es wird über sinistre Kanäle – ich weiß nicht, wie sie es machen – beschafft. Man muss ganz klar dazu sagen: Die Studien sagen zwar, die Konzentration verbessert sich nicht, aber über die Wachheit wird im Grunde die Leistungsfähigkeit auch bei Nicht-Betroffenen gestärkt. Die Betroffenen von ADHS machen das im Regelfall nicht, weil sie häufig eher mit Nebenwirkungen emotionaler Art, vegetativer Art konfrontiert sind. Da habe ich jetzt keine Sorgen, eher im Bereich Student, Nicht-ADS: „Ich besorge es mir irgendwo.“

 

Axel Enninger: Die Therapieüberwachung im Sinne von Laborkontrollen liegt ja häufig wieder im Bereich des Kinder- und Jugendarztes. Was soll der wann und wie häufig kontrollieren?

 

Jan Frölich: Auch da gibt es leitlinienbezogene Empfehlungen. Die Kinderärzte sehen es etwas anders. Da gibt es auch andere kinderärztliche Empfehlungen als an die Kinder- und Jugendpsychiater. Einmal im Jahr wird laborkontrolliert: Blutbild-, Leber- und Nierenwerte. Halbjährlich sollten Gewicht, Körpergröße, Blutdruck, Puls, monitort werden. Aber das sind im Grunde schon letztendlich die medizinischen Kontrollmaßnahmen.

 

Axel Enninger: Wenn wir die Kinder- und Jugendärzte gerade schon erwähnt haben: Was wünschen Sie sich denn als Kinder- und Jugendpsychiater von der Kooperation mit den Kinder- und Jugendärzten?

Mut zur Behandlung

Jan Frölich: Ja, ich würde mir wünschen, das ist ja in unserem Gespräch vielleicht auch deutlich geworden, dass im Grunde die Kinderärzte dieses Screening vielleicht schon sehr strukturiert übernehmen und dann fachspezifisch zuweisen, auch keine Angst haben vor diesem Störungsbild oder sagen: ‚Ich will damit nichts zu tun haben.‘ Der zweite Punkt ist ganz klar, in Kooperation natürlich mit dem Kinder- und Jugendpsychiater, die medikamentöse Behandlung dann doch in die eigenen Hände zu nehmen. Es ist eine ureigene, auch pädiatrische Angelegenheit. Es geht um eine medizinische Behandlung, die im Regelfall wirklich gut durchführbar ist – also Mut dazu, hier wirklich reinzugehen.

 

Axel Enninger: Da sind Sie nicht genervt als Kinder- und Jugendpsychiater?

 

Jan Frölich: Überhaupt nicht. Von uns gibt es ohnehin zu wenige. Ich wäre froh, wenn sie dieses Geschäft übernehmen würden. In 90 % der Fälle erlebe ich es so, die Kinderärzte wollen es nicht einmal verschreiben und trauen sich da nicht ran. Es wäre im Rahmen der Ausbildung, der Fortbildung wirklich sehr wichtig, dass die Kinderärzte – bei dem Andrang, den wir auch haben und den Prävalenzen, die schon hoch sind – da in Aktion treten.

Früh erkennen, Mitbehandlung übernehmen, langfristig betreuen, nicht abtun und Stimulanzien nicht verteufeln

Axel Enninger: Da sind wir schon bei dem Standardelement unseres Podcasts, nämlich den Dos und Don‘ts, die sich unser Gast wünschen darf. Sie dürfen also ein paar Dinge loswerden, die Sie unbedingt positiv als Nachricht den Zuhörerinnen und Zuhörern senden wollen. Sie dürfen aber auch ein paar Sachen sagen, die Sie nerven und wo Sie sagen würden: ‚Bitte lasst es sein.‘

 

Jan Frölich: Ich wiederhole es einfach noch einmal, weil es so wichtig ist: Screening, Früherkennung der Symptomatik. Warum? Weil es zwar einfach ein Reifungsstörungsbild ist, aber auf der anderen Seite unbehandelt oder primär einmal unentdeckt und -diagnostiziert einen desaströsen Verlauf nehmen kann. Das sagen letztendlich alle Studien. Der zweite Bereich ist: Man kann es schon auch im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung gut herausarbeiten, diesen Bereich mit hereinzunehmen, einen Fragebogen laufen zu lassen, um zu sagen, dass er eine Diagnostik braucht und dann, was ich sagte, letztendlich die Behandlung mit zu übernehmen. Ein wichtiger Punkt wäre: Es ist ein Langzeit-Störungsbild. Kinderärzte oder Jugendärzte: Seht es auch als Langzeit-Störungsbild, ähnlich wie beim Asthma oder einer Diabetes! Bestellt sie auch bis zum 18. Lebensjahr ein. Das ist sehr, sehr wichtig! Dann gelingt auch im Regelfall eine gute Behandlung. Die Don’ts: Es ist eher selten, aber es kommt leider immer noch vor, dass manche Kinderärzte es wirklich als eine Modeerkrankung abtun, nichts davon hören wollen und sagen: ‚Ach, der hat doch nichts. Sind doch alle so!‘, in der Form. Der zweite Bereich, den ich manchmal kritikwürdig finde, ist, dass die kinderärztlichen Kollegen von Psychostimulanzien, obwohl die Studien und auch die klinische Erfahrung sehr eindeutig sind, nichts wissen wollen und auf homöopathische Ansätze setzen, die ich überhaupt nicht verteufeln will. Ich sage aber: Leute, wenn es eine ADHS ist, seid bitte mit im Boot und geht dem Kinder- und Jugendpsychiater da nicht in die Quere und sagt: ‚Mach keine Behandlung mit Psychostimulanzien.‘ Das ist einfach so wichtig!

 

Axel Enninger: Vielen, vielen Dank für das sehr interessante Gespräch. Ich habe eine Menge gelernt. Ich hoffe, dass es vielen Zuhörerinnen und Zuhörern auch so geht. Noch einmal herzlichen Dank, Herr Frölich!

 

Jan Frölich: Ich danke Ihnen ganz herzlich, hier sprechen dürfen zu dürfen. Danke!

 

Axel Enninger: Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlichen Dank fürs Zuhören! Wie immer, wenn es Ihnen gefallen hat, freuen wir uns über eine positive Bewertung. Wir freuen uns auch über Kommentare und, wie immer, die Erinnerung: Wenn Sie denken, es gibt Themen oder Gäste, die wichtig wären, hier einzuladen, freuen wir uns immer über Anregungen, und wie ich letztens bei irgendeiner Podcasterin gehört habe und jetzt abschauen werde: Wir hören uns.

Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!

Ihr Team von InfectoPharm