consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #35 - 13.10.2023
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
Anaphylaxie –
wenn schnelle Hilfe Not tut
Axel Enninger: Heute spreche ich mit:
Prof. Dr. Margitta Worm und Dr. Lars Lange.
DR. AXEL ENNINGER…
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.
Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast – mit einer Premiere, nämlich der Tatsache, dass ich heute zwei Gesprächspartner habe, was mich sehr freut. Meine Gesprächspartnerin aus Berlin ist Frau Prof. Margitta Worm. Sie ist Fachärztin für Dermatologie und Venerologie, sie hat die Zusatzbezeichnung Allergologie, Umweltmedizin und Ernährungsmedizin, und sie leitet die Hochschulambulanz und koordiniert die Lehre an der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie an der Charité in Berlin. Mein zweiter Gesprächspartner ist Dr. Lars Lange, der dem einen oder der anderen von Ihnen aus einer anderen Podcastfolge, nämlich aus der Podcastfolge Neurodermitis, schon bekannt ist. Dr. Lange ist ein renommierter Kinder-Allergologen, und er ist Oberarzt der Kinderklinik am Marien Hospital in Bonn. Herzlich willkommen Ihnen beiden!
Lars Lange: Danke, herzlich willkommen zurück.
Margitta Worm: Hallo, einen schönen guten Tag!
Axel Enninger: Also, dass Sie Ernährungsmedizinerin sind, Frau Worm, freut mich natürlich ganz besonders. Das ist der Overlap zu meinem Gebiet, der Kinder-Gastroenterologie. Wir haben alle die neue Ernährungsstrategie unseres Landwirtschaftsministers zur Kenntnis genommen, und ich glaube, wir haben sie auch alle relativ freudig zur Kenntnis genommen, oder? Ich habe den Eindruck, da stehen viele vernünftige und kluge Sachen drin, oder was denken Sie?
Margitta Worm: Ja, ich denke, dass es immer gut ist, wenn es Empfehlungen gibt und wenn die sich gemäß der Anforderung der Zeit verändern. In dem Fall geht es ja darum, mehr pflanzenbasierte Ernährung in den Alltag zu integrieren, was natürlich aus allergologische Sicht für den einen oder anderen eine größere Herausforderung darstellt. Letztlich ist aber natürlich die Pflanzenvielfalt so groß, dass es, glaube ich, dennoch gelingt, ein vielfältiges und interessantes Ernährungsprogramm auch für Allergiker und Allergikerinnen aufzustellen.
Axel Enninger: Also, das muss ich vielleicht nochmal sagen, wir reden heute über Anaphylaxie. Bei der Ernährungsstrategie gab es natürlich alle möglichen Aspekte, die berücksichtigt wurden, unter anderem das Thema „mehr pflanzenbasierte Ernährung“. Ist denn das aus allergologischer Sicht ein Problem, Lars?
Lars Lange: Ach, ich glaube, im Prinzip nicht. Es gibt aber so ein paar Hürden, und so ein paar Fallen, wenn man eine Nahrungsmittelallergie hat. Zum Beispiel habe ich neulich etwas von einer Mutter beigebracht gekriegt, die ein Kind hatte mit einer Nussallergie und auch mit einer Milchallergie. Da sprach ich dann über Ersatzkäse, und sie erzählte mir, dass in den ganzen Ersatzkäsen Walnuss und Cashew drin ist, was ich jetzt so nicht direkt parat hatte, und ich finde es immer wieder erstaunlich, was sich die Industrie Tolles einfallen lässt und an Produkten kreiert, die Überraschungen für die Leute beinhalten. Also das heißt, man muss da einfach sehr, sehr gut lesen. Es sind nicht nur die Nüsse, es sind auch die Hülsenfrüchte, die manchmal ein Problem sind. Sie sind teilweise nicht deklarierungspflichtig, wie Erbsen, und da gibt’s schon Allergiker, die Ärger damit kriegen.
Axel Enninger: Haben Sie das schon erlebt, Frau Worm?
Margitta Worm: Ja, das Besondere ist eben, Lars hat es schon angedeutet, dass sich die Industrie auch weiterentwickelt und beispielsweise gerne auf Proteine aus Hülsenfrüchten zurückgreift. Das Besondere als Allergiker ist eben, dass die Rezepturen sich manchmal ändern, die Patienten das aber gar nicht bemerkt haben. Dann kommt es tatsächlich bei einem Produkt zu Problemen, das vielleicht in der Vergangenheit vertragen wurde, weil der Bestandteil gar nicht enthalten war. Also ja, wir haben solche Patienten.
Axel Enninger: Das heißt, grundsätzlich finden wir das alle gut, mehr pflanzenbasierte Ernährung, aber man muss schon ein bisschen aufpassen. Das mit den verschiedenen Rezepturen kennen wir auch aus anderen Feldern. Das ist bei unseren Zöliakiepatienten auch so. Sie kaufen jahrelang immer das gleiche Produkt, und auf einmal hat die Firma die Zutatenliste ein bisschen verändert. Dann gibt’s doch Ärger. Das scheint auch unter dem Stichwort Anaphylaxie ein Problem zu sein. Ist Anaphylaxie ein zahlenmäßig zunehmendes Thema, oder haben wir eigentlich eine stabile Häufigkeit?
Margitta Worm: Anaphylaxie, vielleicht auch nochmal kurz zur Definition, ist eine plötzlich auftretende, allgemeine allergische Reaktion, die nicht nur die Haut, sondern auch den Respirationstrakt, Herzkreislaufsystem betrifft und potenziell lebensbedrohlich ist, also die schwerste Form einer Allergie, die insgesamt gemessen an der Häufigkeit von allergischen Erkrankungen, glücklicherweise in der extremen Form selten ist. Und wenn Sie jetzt fragen, hat es in den letzten Jahrzehnten zugenommen, dann muss man sagen, kommt darauf an, was der Auslöser ist. Wir wissen, dass bei den durch Medikamenten ausgelösten Anaphylaxien, das betrifft mehr Erwachsene, die Zahlen etwas ansteigen. Beispielsweise die Insekten, eine andere wichtige große Gruppe, da ist die Anaphylaxie eigentlich in den letzten Jahrzehnten immer stabil geblieben. Wir reden ja hier heute im pädiatrischen Podcast und tatsächlich ist es so, dass die Anaphylaxie durch Nahrungsmittel, insbesondere bei Kindern – das zeigen Daten, die gewonnen wurden, indem man untersucht hat, wie häufig Kinder wegen einer Anaphylaxie in einer Rettungsstelle betreut wurden – dass diese Zahlen nach oben gehen. Es gibt Publikationen aus den USA, aus Australien. Wir können mal Lars fragen, ich kann mir vorstellen, dass es auch in Deutschland einen ähnlichen Trend gibt.
Axel Enninger: Lars, wie siehst du das?
Lars Lange: Ja, absolut. Wobei wir, glaube ich, in Deutschland dazu keine klare populationsbasierte Erhebung haben. Wir kriegen die schönen Zahlen, das ist jetzt noch nicht erwähnt worden… Es gibt in Europa ein ganz wundervolles Anaphylaxieregister, wo Anaphylaxien eingegeben, gesammelt und ausgewertet werden. In sehr vielen Formen und in ganz vielen Aspekten. Davon haben wir sehr viel gelernt. Dieses Anaphylaxieregister wird im Prinzip gehostet und betreut von Margitta Worm, so dass die wichtigsten Informationen für Europa meistens aus Berlin kommen.
Nahrungsmittelallergien nehmen zu und zu und zu
Axel Enninger: Est es auch deine Erfahrung als Kinder- und Jugendarzt, dass Nahrungsmittelallergien einen Großteil von dem ausmachen, was dich so bewegt?
Lars Lange: Ja, absolut. Es stimmt schon, Medikamenten-Anaphylaxien gibt’s bei Kindern wirklich nicht viele. Da braucht es wahrscheinlich einfach ein paar Expositionen, bevor man sich richtig sensibilisiert. Es sind die chronisch Kranken, die eher mal auf Medikamente allergisch reagieren. Insekten, ja gut, das ist, glaube ich, echt gleichbleibend, und bei Nahrungsmitteln nimmt es zu und zu und zu.
Axel Enninger: Jetzt wissen wir ja, dass man anaphylaktisch in unterschiedlichen Lebenssituationen auf die gleiche Menge Allergen mal reagieren kann und mal auch nicht. Stichwort Augmentationsfaktoren. Haben unsere Kinder mehr Stress oder wie erklären wir uns das? Wie kommen wir dazu? Warum haben wir auf einmal mehr Kinder, die bei uns vorgestellt werden wegen Anaphylaxien nach Nahrungsmitteln?
Augmentationsfaktoren auch bei Kindern?
Lars Lange: Also, ich glaube, zu den Augmentationsfaktoren müssen wir gleich noch mal kommen, und müssen da Margitta mehr fragen. Bei Kindern ist es Gott sei Dank viel einfacher hier in Bonn als in Berlin, wenn die Charité testet, weil Kinder mit Augmentationsfaktoren gar nicht so wahnsinnig viel zu tun haben. Es spielt eine Rolle, aber es spielt keine große Rolle. Also, einen Dreijährigen, der tatsächlich eine ganz relevante Veränderung seiner Symptomatik durch einen Augmentationsfaktor hat, habe ich nicht oft gesehen.
Axel Enninger: Also beraten wir da falsch? Wir beraten da schon so, dass wir sagen: ‚Das ist jetzt getestet, aber es kann durchaus sein, dass, wenn Ihr Kind einen fieberhaften Infekt hat oder so etwas und die gleiche Menge noch einmal kriegt, dass es dann durchaus reagieren kann.‘ Ist das falsch?
Lars Lange: Also, dass jemand einmal reagiert und einmal gar nicht, ist tatsächlich bei kleinen Kindern nicht oft so, aber dass die Reaktionsschwere zunimmt, das kann durchaus sein. Kleine Geschichte von vor vielen Jahren: Da hatten wir ein Kind, das hier mit einer obstruktiven Bronchitis lag. Es hatte eigentlich „nur“ – in Anführungszeichen – eine Eiallergie und hat immer ein bisschen eine rote Schnute gekriegt. Dann haben sie nicht daran gedacht und haben ihm hier zum Trost ein schönes Croissant gegeben, das offenbar mit Ei bestrichen war – oder so ein Hörnchen. Das Kind hat richtig ordentlich reagiert mit den Atemwegen, aber es hatte halt auch gerade eine Atemwegssymptomatik und deswegen schwer reagiert. Ja, es spielt eine Rolle, aber es ist selten, dass es so krass ist wie bei den Erwachsenen.
Axel Enninger: Okay, und warum ist es bei Erwachsenen anders, Frau Worm?
Margitta Worm: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Ich kann da bis jetzt nur spekulieren. Wir wissen beispielsweise, dass bei Kindern die Ausprägung, also die Reaktivität des Immunsystems, häufig viel stärker ausgeprägt ist. Das heißt, die Kinder reagieren auf kleine Mengen und haben dann ihre Reaktion. Ob der Kofaktor dazukommt oder nicht, die Reaktion wird niederschwellig ausgelöst. Bei Erwachsenen gibt es das Phänomen, dass die Reaktion nur ausgelöst wird durch große Mengen, oder es gibt sogar die Situation bei Erwachsenen, dass die Reaktion nur ausgelöst wird, wenn das Allergen plus der Kofaktor dazukommt. Das ist eben etwas, was wir tendenziell mit zunehmendem Alter häufiger sehen. Jetzt darf man aber nicht vergessen, Lars vielleicht, dass die Kofaktoren auch noch stärker im medizinischen Alltag berücksichtigt werden könnten. Ich kann mir vorstellen, denn bei Erwachsenen kennen wir es schon lange, zum Beispiel körperliche Anstrengung, bei euch die Infekte, da guckt man darauf, aber es ist bei Ärzten, glaube ich, und auch bei Patienten, was die Awareness für diese Kofaktoren betrifft, noch ein bisschen Luft nach oben. Ich glaube, wir brauchen da in den nächsten Jahren mehr Daten, um es noch besser zu verstehen.
Axel Enninger: Spielt die Erwartungshaltung bei Anaphylaxie eine Rolle? Also bei „Gastro-Symptomen“ würde ich sagen, gibt es einen sehr hohen Placebo/Nocebo-Effekt. Spielt das bei Anaphylaxie auch eine Rolle oder nicht?
Die Erwartungshaltung spielt mit
Margitta Worm: Generell spielt bei allergischen Reaktionen die Erwartungshaltung eine große Rolle. Es gibt sogar diese alte Geschichte: Sie haben einen Fisch-Asthmatiker, der sieht den Fisch auf dem Plakat und kriegt den Asthmaanfall. Es ist sehr gut bekannt, dass die Effektorzellen der Allergie, die Mastzellen, auch stimuliert werden können durch Neurotransmitter. Das ist ganz klar bekannt. Und natürlich spielt es auch eine Rolle bei der Anaphylaxie. Hier kommt noch hinzu, dass wenn ein Patient oder Patientin oder ein Kind schwere Reaktionen hatte mit Todesangst – das haben wir gelernt aus den Schulungen – dass es ein einschneidendes Erlebnis ist. Wenn sich das wieder ankündigt, dann kann das ganz sicher natürlich auch die Reaktionsstärke beeinflussen.
Axel Enninger: Da geht dann ein Teufelskreis los?
Margitta Worm: Also, wir sehen immer wieder mal, zum Glück selten, erwachsene Patienten, die haben eine initiale, sehr schwere Reaktion und haben dann in den Wochen und Monaten danach immer wieder Reaktionen, wo wir manchmal nicht ganz sicher sind, ob tatsächlich der Auslöser da war oder ob vielleicht doch auch die Angst der primäre Trigger war. Selten, aber gibt es.
Axel Enninger: Lars, wolltest du noch etwas ergänzen aus pädiatrischer Sicht?
Lars Lange: Ich wollte ergänzen, dass es tatsächlich auch eine Studie zu diesen Kofaktoren gibt, allerdings leider bei Erwachsenen. Ich fand sie ziemlich beeindruckend. Da war eine Gruppe von Leuten, die eine Erdnussallergie hatten und immer wieder provoziert wurden. Sie haben sich tatsächlich einfach, obwohl sie wussten, dass sie reagieren, vier-, fünfmal provozieren lassen unter verschiedenen Bedingungen: offen und doppelblind und mit Schlafmangel und so weiter. Man hat dann gesehen, dass sie bei der doppelblinden Provokation deutlich weitergekommen sind als bei der offenen Provokation, was eben wieder die Erwartungshaltung bescheinigt, also die Wichtigkeit der Erwartungshaltung. Wenn ich weiß, da kommt jetzt einer, der hat Erdnuss auf dem Löffel und ich muss das essen, dann kribbelt es einfach schneller.
Axel Enninger: Das ist ja schon irre. Der „Banal-Gastroenterologe“ in mir hätte sich das einfacher vorgestellt. Aber das heißt tatsächlich auch, psychische Vorspannung und Erwartungshaltung spielt schon eine Rolle. Das ist ja spannend. Was ich auch neu gelernt habe, ist der „Fisch-Asthmatiker“, das kannte ich bislang noch nicht, das habe ich auch neu gelernt.
Margitta Worm: Ja, da war natürlich gemeint, ein Patient, der Asthma hat und fischallergisch ist. Das war sozusagen die Kurzform für die Experten hier in der Expertenrunde.
Axel Enninger: Ja, sehr gut.
Provozieren, aber richtig
Margitta Worm: Also, ich wollte einmal ganz kurz ergänzen, dass genau aus dem Grunde in den Leitlinien, national, aber auch international, der diagnostische Standard für eine Nahrungsmittelallergie die doppelblind placebokontrollierte Provokationstestung ist. Die ist übrigens natürlich sehr aufwendig, sowohl für die durchführende Einheit als auch für die Patienten und die Eltern. Aber wir können davon nicht abweichen. Ein Grund ist, damit wir somit die Möglichkeit haben, psychogene Komponenten von der allergischen Reaktion abzugrenzen.
Axel Enninger: Dann können wir doch den Spielball „Provokation“ gleich mal aufnehmen. Wir haben alle, das gilt wahrscheinlich in der Erwachsenenmedizin auch so, lange, lange Wartelisten bei den Einrichtungen, die stationäre Nahrungsmittelprovokationen anbieten. Nach dem, was Frau Worm gerade gesagt hat, machen wir das in Stuttgart zumindest viel falsch, weil wir ganz viele offene Provokationen haben. Wir haben viel mehr offene als doppelblinde, und zumindest aus der Kinderklinik in der Charité weiß ich, dass sie auch relativ viele Offene machen. Wie macht ihr das denn in Bonn, und wie positioniert ihr euch da, auch gerade vor dem, was Frau Worm gerade gesagt hat?
Axel Enninger: Im Endeffekt muss man gucken, dass man unter maximaler Ausnutzung der Ressourcen möglichst viele Patienten betreut. Und auch bei uns, wo es wirklich mehrere Provokationen jeden Tag gibt, haben wir jetzt im Moment Wartelisten von einem dreiviertel Jahr, und das ist halt nicht gut. Deswegen mache ich wirklich viele Provokationen offen, aber wenn ich ahne, dass die psychische Komponente eine wichtige Rolle spielt, bespreche ich das mit den Eltern, je älter die Kinder werden, auch mit den Jugendlichen natürlich. Bei einem 3-Jährigen machen wir selten doppelblinde Provokation, bei einem 15-Jährigen machen wir es häufig. Nicht immer, aber schon eingedenk dieser Situation. Es kommt wirklich auf das Ziel der Provo an.
Axel Enninger: Darf ich fragen, wie die Akzeptanz ist? Ich habe manchmal das Gefühl, zumindest bei gastroenterologischen Symptomen, da reden wir ja nicht über Anaphylaxie, sondern wir reden über harmlose, zumindest harmloser wirkende Beschwerden, da habe ich relativ häufig das Gefühl, dass es schwierig ist. Wenn ich dann sage: ‚Na ja, wenn wir es wirklich wissen wollen, müssen wir den Test doppelblind und placebokontrolliert machen.‘ Über die Brücke gehen nicht viele meiner Patienten, auch nicht der Teenager. Meinst du, es liegt daran, dass die Reaktion bei euch ausgeprägter ist, oder wie ist es bei dir? Machen alle, denen du es dann vorschlägst: ‚Na, da müssen wir es doppelblind machen‘, gehen sie über die Brücke?
Lars Lange: 95 %, sie wissen ja auch, warum. Ich sage ihnen schon, wenn es eben zum Beispiel darum geht, dass wir eine objektive Reaktion haben wollen, dass wir vielleicht eine grobe Aussage darüber haben wollen, wie viel der Patient verträgt. Ob er super-, superempfindlich ist oder eben nicht. Die meisten Patienten, die bei mir so getestet werden, haben als 2-jähriges Kind einen Erdnussflip gegessen, 3x gebrochen und hatten dann 15 Jahre nichts, diese Jugendlichen. Wenn ich dann sage: ‚Okay, wir wollen jetzt wissen, wie superempfindlich du bist, und da kriegen wir eine bessere Aussage, wenn wir es doppelblind machen. Wenn ich mit dem Erdnusslöffel auf dich zukomme, kriegst du Bauchschmerzen, wenn du es weißt, das kann ich dir schon sagen.‘ Dann machen sie mit.
Axel Enninger: Okay, wie ist das bei Erwachsenen? Oder ist das kein Riesenthema?
Margitta Worm: Na ja, es ist natürlich ein Riesenthema, wie gerade gesagt. Es ist eben sehr zeit- und ressourcenaufwendig. Jetzt ist es bei Erwachsenen so, dass wir es immer doppelblind, placebokontrolliert machen. Lars hat es gerade schon erwähnt, also auch in der pädiatrischen Gruppe, wenn sie jugendlich werden. Ich würde sagen, je älter die Patienten sind, desto größer – ist ja auch klar – ist die Entwicklung dieser ganzen psychischen Komponente. Beim 3-Jährigen, ist das noch nicht so relevant für dieses Setting, aber bei Erwachsenen ist es bei uns, wie gesagt, der Standard. Aber ein Thema und wichtiger Punkt: Es gibt durchaus Erwachsene, die sagen: ‚Wissen Sie was, das ist mir zu aufwendig.‘ Im Falle, sagen wir mal, Krustentier: ‚Dann meide ich das lieber.‘ Das ist tatsächlich, was wir dann doch häufiger erleben.
Axel Enninger: Ja, ein Leben ohne Auster ist vielleicht vorstellbar.
Lars Lange: Kommt drauf an. [Lachen].
Margitta Worm: Krustentier ist ja nicht nur die Auster. Es ist eine große Familie. Aber noch einmal zu den Provokationen: Auch wenn es lange Wartezeiten gibt und wir jetzt nicht noch mehr Werbung machen wollen, aber die Provokation ist schon eine sehr, sehr wichtige Sache in diesem Kontext. Deshalb würde ich das gerne noch mal ein bisschen aufgreifen. Da gibt es so viele positive Dinge, auch wenn es für die Patienten nicht ganz ungefährlich ist. Deshalb machen wir es im ärztlichen Setting. Aber wir können eben die Menge bestimmen. Wir sehen, wie die Reaktion aussieht. Und der letzte Punkt ist auch nicht unerheblich. Die Patienten können in einem ärztlichen Kontext ihre Notfallmedikamente selbst einsetzen, vielleicht sogar unter Supervision des betreuenden Teams. Unsere Erfahrung ist, dass das sehr von den Patienten geschätzt wird, dass sie diese Erfahrung machen. Erstens diese Supervision und zweitens Barrieren abbauen, den Adrenalin-Autoinjektor zu verwenden. Ich weiß nicht, Lars, wie da deine Erfahrungen sind, aber das sind alles positive Dinge der – wie gesagt, trotzdem dann ja aufwendigen – Provokationen.
Axel Enninger: Wir machen es übrigens bei uns in der Notfallsprechstunde so, dass wir da auch Adrenalin-Autoinjektoren haben, obwohl das viel, viel teurer ist. Aber gerade, um den Eltern zu sagen: ‚Jetzt ist die Situation, wo man es nehmen kann.‘ Und wenn es dann einer von uns macht, dann merken sie es schon mal. Jede Chance nutzen, Werbung für den frühen Einsatz zu machen. Lars, wir haben ja auch noch das Thema „Zeitpunkt der Provokationen“. Da ist tatsächlich auch Teilhabe immer ein großes Thema. Kann ich in die Kita, kann ich in die Schule? Worauf müssen sie achten? Da gibt es zeitkritische Punkte, wo man gerne provoziert haben möchte, oder?
Bei der Provokation können Eltern den Ernstfall üben
Lars Lange: Ja, das schon, aber die Realität ist halt meistens, dass die Eltern dann irgendwie anrufen und sagen: ‚Juni haben wir jetzt, nach den Sommerferien geht es in die Schule, wir möchten das jetzt bitte noch geklärt haben‘, und da müssen wir sagen: ‚Ja, leider, nein!‘ Es ist halt leider, glaub ich, wirklich überall so, dass es lange dauert. Ich möchte aber das mit der Provo und mit Margitta und der Lebensqualität einfach noch mal kurz aufgreifen. Vor zwei Tagen habe ich eine Geschichte hier gehabt. Da war ein kleines, nettes, 3-jähriges Mädchen, schon lange bei mir mit Neurodermitis in Betreuung, ganz positive Mutter, und die wollte jetzt mal testen, ob diese Walnuss- und diese Haselnussgeschichte im Blut eine Relevanz hat. Dann hat sie auf Walnuss reagiert mit Erbrechen, und das war dann okay. Am nächsten Tag haben wir Haselnuss getestet, und da ist sie wirklich innerhalb von zehn Minuten relativ obstruktiv geworden und war totunglücklich im Arm ihrer Mama. Dann ist es einfach wichtig, dass das Team ruhig ist und ganz entspannt da dran geht und sagt: ‚Wissen Sie was? Sehen Sie mal, jetzt hustet Ihr Kind ganz doll, das ist der Zeitpunkt, wo Sie zu Hause den Autoinjektor einsetzen sollten, und das machen wir jetzt zusammen.‘ Und dann macht man es auch nicht hektisch, sondern dann macht sie es einmal mit dem Trainer, dann kriegt sie den Richtigen in die Hand, während einer davor kniet und ihr das zeigt. Dann macht sie das, und dann sitzt man da auch und sagt: ‚Gucken Sie mal, jetzt haben wir drei Minuten. Das Kind hat aufgehört zu husten, merken Sie, wie gut das ist?‘ Und dann nachher dieses Gespräch mit den Eltern zu führen und zu sagen: ‚Wissen Sie, das war jetzt zwar blöd, und Sie wissen, Haselnuss ist jetzt echt ein Risiko, aber was am allerwichtigsten ist, Sie haben jetzt die Macht, diese Anaphylaxie zu behandeln. Sie haben jetzt so ein bisschen den Schrecken der Anaphylaxie dadurch genommen, dass Sie wissen, was Sie tun sollen. Sie müssen nichts anderes machen, als das Notfallset mitnehmen und immer dabei haben und dafür sorgen, dass das Kind es bekommt, wenn es das braucht.‘ Das tatsächlich ist ein Lebensqualitätssprung für die Familie, der superentscheidend ist.
Notfallset mit Autoinjektor – Ausrufezeichen!
Axel Enninger: Mhm, okay. Jetzt hast du das Stichwort für das nächste Kapitel quasi schon geliefert. Wer braucht es denn, das Notfallset, und woraus sollte es denn bestehen? Ein Cortison-Zäpfchen zum Beispiel?
Margitta Worm: Also, das Cortison-Zäpfchen würden wir primär erst einmal zurückstellen.
Axel Enninger: Bewusster Unsinn…
Margitta Worm: Sondern es ist ganz klar, das Adrenalin ist das Medikament der Wahl. Jetzt ist es so, dass es aufgrund der Eigenschaften nicht als Tablette gegeben werden kann, auch nicht als Kapsel oder so, weil es dann sofort abgebaut wird. Es muss also direkt in den Kreislauf, und das kann man eben einzig und allein erzielen durch die Gabe in den Muskel. Damit man das eben auch als Patient, Patientin oder Eltern durchführen kann, gibt es diese Autoinjektoren, also Spritzen, die einen Mechanismus haben, der es ermöglicht, eine definierte Menge in den Körper, und zwar in den Muskel, zu bringen. In den Muskel, deshalb, weil die Nadellänge ausreichend ist, um den Muskel auch zu erreichen. Das ist das Medikament, und Lars hat gerade schon gesagt, es wird eingesetzt, wenn wir neben der Haut Lungensymptome haben wie Rasselgeräusche oder Pfeifen, solche Dinge. Bei Erwachsenen ist es mehr die Kreislaufreaktion, Schwindel, weniger eigentlich Magen-Darm-Symptome. Das Entscheidende ist, die Patienten damit zu schulen. Ich glaube, da kann Lars ganz viel dazu sagen, weil er sich auch sehr engagiert, diese Schulungen nicht nur an seine Patienten zu bringen, sondern auch – gerade für Kinder relevant – in Schulen, in Kindergärten. Vielleicht mag er da noch mal ein bisschen berichten, was er da so macht.
Axel Enninger: Genau, Lars, nur nochmal für den Pädiater ganz klar: Wer kriegt einen Autoinjektor? Das ist schon mal die erste Frage und die zweite Frage, weil sie alle naslang gestellt wird: einer oder zwei?
Lars Lange: Mhm, okay, also noch mal, Margitta hat es gerade schon gesagt, aber ich möchte das hier noch mal betonen, weil ich das wirklich jede 2. Woche erlebe, dass Eltern zu mir kommen und sagen: ‚Ja, Notfallmedikamente habe ich schon, ich habe dieses Zäpfchen.‘ Dass ich ihnen dann noch mal ganz klar sagen: ‚Wissen Sie, das Zäpfchen, wenn Sie das hinten reinschieben, fängt es nach einer, anderthalb Stunden an zu wirken. Es ist als Notfallmedikament somit nicht geeignet!‘ Also für alle Kinderärzte und Allgemeinmediziner, die uns zuhören: Prednisolon-Suppositorien sind kein Notfallmedikament! Ausrufezeichen! Dann gehört natürlich ein Antihistaminikum dazu. Das, was am schnellsten wirkt, ist Cetirizin. Andere wirken deutlich länger oder etwas langsamer. Deswegen ist das ganz gut. Ich glaube, Loratadin ist auch relativ schnell. Also Cetirizin, Loratadin, das sind die schnell wirkenden Antihistaminika. Fenistil ist ein dirty drug, für Kinder zumindest wollen wir das nicht haben.
Axel Enninger: Warum wollen wir es nicht haben? Sag es nochmal kurz, bitte.
Lars Lange: Zum einen wegen der sedierenden Wirkung und auch wegen der kardialen, potenziell arrhythmogenen Wirkung.
Axel Enninger: Und wer kriegt einen Autoinjektor? Frau Worm hat es gerade schon gesagt, aber sagt du nochmal, sozusagen für die pädiatrische Population.
Lars Lange: Ich finde, es gibt eine schöne Leitlinie, die schöne Anaphylaxie-Leitlinie, die eine schöne Liste gemacht hat, welche Indikationen wir haben. Das, was für die Kinder ganz klar ist: Menschen, die eine Anaphylaxie auf ein nicht sicher meidbares Allergen hatten. Und „nicht sicher meidbar“ sind natürlich auch Nüsse, Erdnüsse, Milch, Ei. Man kann darüber reden, ob Kiwi ein sicher meidbares Allergen ist. Bei solchen Geschichten, bei selteneren Allergenen, muss man dann halt mit den Eltern sprechen. Medikamente sind meistens sicher meidbar. Da würde ich auch in der Regel keinen Autoinjektor aufschreiben. Aber bei Nahrungsmitteln sind es eben sehr, sehr viele. Kinder, die auf kleinste Mengen reagieren, die sollten auf jeden Fall einen Autoinjektor kriegen. Wir diskutieren sehr lange und auch häufig immer wieder darüber, ob so ein Kind, was eine rote Schnute hat, wenn es ein halbes Ei isst und 2 Jahre alt ist oder anderthalb und wahrscheinlich in einem halben Jahr tolerant ist, ob das einen Autoinjektor braucht. Davon bin ich eher kein Freund, aber das muss auch immer mit der Situation überlegt werden. Wenn es Leute sind, die sagen: ‚Wir fahren gerne in die Alpen und machen da dreitägige Hüttenwanderungen‘, dann muss man das überlegen. Oder wenn sie in der Eifel wohnen, und der nächste Hubschrauber kommt nach einer dreiviertel Stunde, muss man das auch überlegen. Das heißt, schlechte Erreichbarkeit ist ein weiterer Indikator für die Verordnung eines Autoinjektors.
Axel Enninger: Okay, und noch einmal für alle Zuhörerinnen und Zuhörer, die das jetzt nicht alles mitschreiben wollen oder nicht getan haben. Wir verlinken den Hinweis zur Leitlinie selbstverständlich in das Transkript, und wir verlinken da auch das consilium Themenheft Anaphylaxie-Management, das Sie beide geschrieben haben. Auch da ist sozusagen beides nochmal gut nachlesbar. Okay, Lars, also dann verordnen wir das. Was gibt’s da für Besonderheiten zu beachten? Gibt es unterschiedliche Stärken? Gibt es unterschiedliche Größen? Muss man da etwas beachten?
Lars Lange: Also, ich will zumindest deine Frage noch beantworten mit den „einer oder zwei Autoinjektoren“. Wir würden zwei Autoinjektoren nicht immer aufschreiben, sondern tatsächlich, wenn die Kinder besonders schwer sind, wenn sie besonders schwer reagiert haben, also auch die Erwachsenen besonders schwer sind. Wir können Margitta noch mal fragen, ob sie generell zwei aufschreiben. In der Leitlinie steht drin, nach langen Diskussionen, dass für besondere organisatorische Situationen auch zwei aufgeschrieben werden können. Also, wenn die Eltern dann da stehen und sagen: ‚Aber der Kindergarten… aber bitte, aber es ist wirklich wichtig, die lassen unser Kind nicht rein…‘ und so weiter, dann kann man drüber reden. Aber eigentlich ist meine Meinung, der Autoinjektor gehört an den Mann oder an die Frau, und deswegen kann auch bei Kindern, wo das passt, von der Menge her einer reichen, wenn sie gut geschult sind. Was ich nicht gut finde, ist einer für die OGS, einer für die Kita, einer für die Oma, einer für den geschiedenen Papa und was weiß ich was. Das geht dann nämlich relativ schnell in große Mengen, das finde ich nicht so nötig.
Axel Enninger: Also, das heißt, die Frage einer, zwei, drei oder vier Autoinjektoren haben wir zumindest für die Kinder halbwegs im Blick. Wie machen Sie es, Frau Worm?
Margitta Worm: Ja, also, bei der Anaphylaxie haben wir ja im Wesentlichen, Lars hat es schon gesagt, bei den Medikamenten-Patienten verordnen wir keinen Adrenalin-Autoinjektor. Da ist es ja auch in der Regel kein Problem, das zu meiden. Bei den Insekten verordnen wir es natürlich, und in der Regel dort einen Autoinjektor, es sei denn, der Patient hat ein sehr hohes Körpergewicht oder wohnt peripher. Oder es gibt auch noch eine seltene Erkrankung, wo die Mastzellen vermehrt sind, die Mastozytose. Sie ist häufiger bei Erwachsenen. Die Patienten neigen zu sehr schweren Reaktionen und kriegen auch immer zwei Autoinjektoren. Tendenziell würde ich sagen, Nahrungsmittelallergiker, schwere, eher zwei Autoinjektoren als Insekten zum Beispiel. Wenn die Patienten, das hat Lars schon gesagt, auf sehr kleine Mengen reagieren und, wie gesagt, sehr schwere Reaktionen hatten. Wir müssen eben auch die Anamnese beachten, wie häufig sind schon wiederholte Reaktionen aufgetreten? Wir sehen aus den Daten des Anaphylaxie-Registers, dass das Risiko der wiederholten Reaktion auch auslöserabhängig ist. Es ist am höchsten für die Gruppe der Nahrungsmittelallergiker, und auch da gibt es nochmal Unterschiede. Da sehen wir also, Cashew und Erdnuss ist nochmal anders als bei anderen Nahrungsmitteln. Also in der Summe: In der Regel ein Autoinjektor für die Spitze. Bei schweren, Patienten, die peripher wohnen, dort in der Regel zwei Autoinjektoren. Und was Lars gesagt hat, finde ich auch noch mal wichtig: Dieses irgendwie „every place autoinjector set“ sehe ich auch kritisch, sondern tatsächlich eher wirklich so schulen, dass das Notfallset da liegt, wo es hingehört, nämlich beim Patienten.
Axel Enninger: Gut, vielen Dank. Das heißt, das mit den Autoinjektoren haben wir jetzt verstanden. Aber der beste Autoinjektor nützt nix, wenn man nicht ordentlich damit umgehen kann. Das hatte Frau Worm vorhin schon mal gesagt, Lars, das ist dir ein ganz, ganz besonderes Anliegen. Wie gesagt, wenn ich das Ding falschherum benutze, dann habe ich irgendwie ein bisschen Adrenalin im Daumen des Benutzers oder sonst wo. Wie schult ihr denn, und wie denkst du, dass diese Patientengruppe idealerweise geschult werden sollte?
Schulung und Anaphylaxiepass
Lars Lange: Also, das Erste, was schon mal dazugehört, ist, dass die Patienten alle einen Anaphylaxiepass kriegen. Den Anaphylaxiepass gibt es bei den Herstellern von Autoinjektoren, den gibt’s herunterzuladen auf der GPA-Homepage, beim deutschen Allergie- und Asthmabund, ich glaube auch beim DGAKI gibt’s den runterzuladen auf der Homepage, bin ich mir nicht ganz sicher. Gibt es an verschiedenen Stellen, wahrscheinlich kann man es googeln: „Anaphylaxiepass Deutschland“. Da steht halt genau drin, wann was angewendet werden soll. Diesen Pass fülle ich aus, drücke den Patienten einen Trainer des Autoinjektors in die Hand, den sie bekommen. Da können wir vielleicht gleich noch mal über aut idem reden, da sind wir nämlich bis jetzt drüber hinweggegangen, und dann kriegen sie eine Instruktion in dem Moment. Also das heißt, sie kriegen es von mir einmal gezeigt, wie sie es machen, machen es selber und da werden die Medikamente alle erklärt und eingetragen. So, und das ist aber natürlich nur der erste Schritt. Dann braucht es eine Schulung, und da fehlt es leider ein kleines bisschen in Deutschland. Es gibt einige weiße Flecken, wo es nicht ausreichend Schulungen gibt. Die Schulung nennt sich AGATE. Arbeitsgemeinschaft Anaphylaxietraining und „Edukation“ für das E, AGATE brauchte das E. Das ist eine tolle, 2x 3-stündige Schulung, wo mittlerweile ganz verschiedene Altersstufen geschult werden, also Erwachsene, dann haben wir Jugendlichenschulungen, wir haben verschiedene Altersstufen für Kinderschulungen, und wir haben eine Elternschulung. Und wir haben auch eine Erzieherinnenschulung, wie Margitta schon sagte, oder „Betreuerschulung“ im Endeffekt.
Axel Enninger: Online gibt’s nix? Da würde ich jetzt als Laie denken, es bietet sich vielleicht an als Online-Modul.
Lars Lange: Bietet sich auch an, und es ist aber tatsächlich auch so ein kleines bisschen wieder das Problem der Ressourcen. Also in einem großen Schulungszentrum, es gibt so ein paar, die machen tatsächlich zehn Schulungen pro Jahr, und wenn wir dann noch zusätzlich Online-Schulungen anbieten würde, was wir manchmal machen und während Corona natürlich gemacht haben, dann können wir ganz Deutschland noch schulen, und dann kann man das zum Hauptberuf machen. Aber im Hauptberuf bin ich halt Arzt und Allergologe und nicht „Schuler“. Deswegen ist es von der Kapazität her noch ein bisschen begrenzt.
Axel Enninger: Aber gibt’s irgendwelche Erklärvideos oder so etwas? Gibt so etwas auf euren Fachgesellschaftsseiten?
Margitta Worm: Ja, also, es gibt ein Erklärvideo auf der Anaphylaxie-Website. Das ist so ein kleiner Animationsfilm, ganz unspektakulär, aber eben doch sehr präzise dargestellt, wie im Akutfall vorzugehen ist, einschließlich auch 112 wählen, Lagerung et cetera. Also, den kann ich sehr empfehlen. Der ist auf der Anaphylaxie-Website, und es gibt noch andere Webseiten, wo der auch verlinkt ist. Also das ist an sich ein sehr schöner, einfacher Film, der auch, was ich so gehört habe, von Leuten, die sich den angeschaut haben, Betroffenen, recht gut verständlich ist.
Lars Lange: Ja, was an den Schulungen vielleicht einfach so ein bisschen traurig ist, ich weiß, mit einem Podcast werden wir nicht viel erreichen können bei den Kassen, aber die Übernahme durch die Kassen ist halt einfach immer schlechter. Das ist etwas, das früher mal mehr oder weniger eine Kassenleistung war, also auf Anfrage zumindest. Also, die meisten Kassen haben es genehmigt, aber die Kassen ziehen sich jetzt, seit Corona, deutlich zurück, und wir haben relativ wenige Übernahmen durch Kassen für diese Schulungsmaßnahme, und das ist wirklich schade. Das Problem ist, dass diese ganzen Schulungen eigentlich durchgeführt werden sollen für chronische Erkrankungen, und die Kassen haben ein Problem damit, die Anaphylaxie als chronische Erkrankung anzusehen, weil sie sagen: ‚Ist ja ein akutes Ereignis‘. Dass die Menschen sich aber jeden Tag abmühen, damit dieses akute Ereignis nicht eintritt, und damit chronisch betroffen sind, das ist irgendwie etwas, das in die MDK-Köpfe leider nicht reingeht, und das macht’s schwierig.
Axel Enninger: Okay, aber das können wir tatsächlich durchaus noch einmal platzieren: Anaphylaxieschulungen, Kostenübernahme durch Krankenkassen wäre noch eine Baustelle, die wir uns alle erledigt wünschen würden. Das finde ich schon eine gute Nachricht, und man kann vielleicht auch sagen, dafür könnte man Kosten einsparen bei unsinniger Allergiediagnostik zum Beispiel. Das ist ein gern genommenes Thema zum Beispiel bei mir in der Kinder-Gastroenterologie. Wenn irgendwelche Krankenkassen spannende IgG-Antikörper-Bestimmungen für Nahrungsmittel übernehmen, denke ich immer: ‚Hä? Wer hat denn das jetzt bezahlt?‘ Ja, die Krankenkasse übernimmt ist, und vielleicht nehmen wir kurz diesen Aufhänger, einen kurzen Schlenker zu machen zur Diagnostik. Lars, da positionierst du dich ja auch gerne bei dem Thema „Machen wir doch mal ein Gesamt-IgE“, oder was ist schlau bei dem Thema Anaphylaxie? Wenn ich denke, jemand hat anaphylaktisch reagiert, welche Diagnostik ist schlau und welche ist Blödsinn?
Anamnese + Sensibilisierungsnachweis = Diagnose
Lars Lange: Also schlau ist, einen Allergologen zu fragen oder auch selber allergologisch interessiert zu sein und passend zur Anamnese einen Sensibilisierungsnachweis zu führen. Das kann theoretisch auch ein Pricktest sein, das kann sonst aber auch das spezifische IgE sein gegen den Extrakt des Nahrungsmittels. Also gegen Erdnuss zum Beispiel. Wenn man noch ein bisschen genauer gucken will, eignen sich bestimmte Risikomarker, bei der Erdnuss dieses Ara h 2. Ich glaube, das kennen mittlerweile viele Kinderärzte. Wenn da eine Sensibilisierung ist, dann ist zusammen mit der Anamnese die Diagnose gestellt. Was ich auch hier noch mal sagen möchte, weil ich es schon 100x gesagt habe: Nur weil ein spezifisches IgE extrem hoch ist, heißt das noch nicht, dass ein Mensch extrem gefährdet ist. Zumindest ist da keine ganz klare Assoziation. Es sind immer wieder die Leute, die kommen: ‚Ich habe einen Erdnusswert über 100, und deswegen darf ich nicht mehr in der Schule bei der Klassenfahrt mitfahren, weil das ist ja so wahnsinnig gefährlich.‘ Also, die Höhe des Wertes sagt nichts zuverlässig über die Schwere der Reaktion. Wir provozieren hier regelmäßig Kinder mit hohen Werten, die dann irgendwie sechs Erdnüsse essen, zwei Quaddeln haben, einmal brechen – fertig. Also das ist etwas, das wichtig ist.
Axel Enninger: Klassenfahrten sind jetzt nicht unbedingt das Thema der Erwachsenen, es sei denn man ist Lehrer, aber ist das auch Ihre Erfahrung bezüglich der Diagnostik?
Pricktest, IgE und vielleicht Tryptase, IgG ist ein No-Go
Margitta Worm: Wir haben sehr viel IgE-Diagnostik zur Verfügung. Wir wissen aber, bei Kindern da gibt’s die top five oder vielleicht noch top ten, und bei Erwachsenen eben auch. Daran sollte man auch die Allergiediagnostik im Kontext der Anamnese ausrichten. IgG-Bestimmungen sind natürlich ein absolutes No-Go, ist auch nicht empfohlen von den Fachgesellschaften. Die spezifische IgE-Untersuchung ist ein Marker neben dem Pricktest. Aber letztlich ist es eben die Anamnese +/– Provokationstestung, die dann die klinische Relevanz bestimmt. Bei Erwachsenen ist noch wichtig, bei sehr schweren Reaktionen die Tryptase zu bestimmen, hatte ich bereits erwähnt. Es gibt Mastzellerkrankungen, die auch das Risiko für schwere Reaktionen steigern, und die Tryptase ist da ein wichtiger Wegweiser. Ich kriege auch immer wieder die Frage von Pädiatern, deshalb bringe ich das hier mal ein: ‚Ja, wie ist denn das mit der Tryptase?‘ Wir haben jetzt Daten. Generell ist die Tryptase bei Kindern geringer als bei Erwachsenen. Wir haben Daten, die ich gerade gesehen habe, es liegt so bei 4 im Schnitt bei Kindern. Bei Erwachsenen ist es ein bisschen höher. Da wird diskutiert, und wir haben auch selbst dazu Daten. Man kann auch in der akuten Reaktion, das sagen übrigens auch die neuen europäischen Leitlinien, die Tryptase bestimmen als diagnostischen Marker für die Anaphylaxie. Das ist für die meisten Fälle, wo der Auslöser klar ist, jetzt nicht ganz so zwingend weiterführend, aber gerade bei unklaren Reaktion ist es sehr hilfreich für die Abgrenzung, auch wenn wir noch mal denken an psychogene Reaktionen.
Axel Enninger: Lars, ein kleinerer pädiatrischer Kommentar noch?
Lars Lange: Es ist gerade für Medikamente, für perioperative Anaphylaxie zum Beispiel ganz entscheidend. Wenn ein Patient auf einmal einen Blutdruckabfall kriegt, ein paar rote Flecken während der Narkose, dann kann das viele Gründe haben, und wenn man dann eine Tryptase hat, die deutlich erhöht ist und die nach dieser Reaktion abgenommen wurde, dann ist das etwas, das uns hilft. Theoretisch auch bei Insektenstichreaktionen, wo es nicht immer einfach ist, Kreislaufreaktion aufgrund von ‚Oh, ich bin gestochen worden!‘ abzugrenzen von echter Anaphylaxie. Wenn sie dann in die Notaufnahme kommen und kriegen eine Tryptase abgenommen, können wir es besser eingrenzen. Also, insofern ein guter Parameter, der bei Kindern nicht ganz so zuverlässig ist wie bei Erwachsenen, aber schon auch nicht unwichtig – der in Relation gesetzt werden muss zum Basalwert. Dann muss man nach 24 Stunden nochmal abnehmen und gucken, wie er ist.
Axel Enninger: Tatsächlich spannend, also war mir so nicht geläufig, aber vielleicht ist das tatsächlich auch nochmal eine neue Methode, die wir gerne unterbringen wollen, Frau Worm?
Biene und Wespe prüfen
Margitta Worm: Ja, wir haben jetzt viel über Nahrungsmittel gesprochen. Insektengiftallergie, können auch bei Kindern schwere Reaktionen, selten aber doch, hervorrufen. Da würde ich gerne erwähnen, dass es wichtig ist, immer nach Biene und Wespe zu schauen, weil einfach die Anamnese nicht immer ganz klar ist. Wir erleben immer wieder Überraschungen, und damit man nichts übersieht, immer Biene und Wespe. Wenn beides positiv ist, dann haben wir da die rekombinante Allergiediagnostik, die uns auch hilft, die Doppelsensibilisierung von der wirklichen Einzelsensibilisierung zu unterscheiden.
Axel Enninger: Okay, sehr gut, also Biene und Wespe, immer gemeinsam testen, auch wenn es ganz sicher die Biene war. Vielleicht war es doch die Wespe. Okay, es gibt ein traditionelles Element in unserem Podcast, und der heißt den Dos & Don‘ts. Die Gäste, der Gast, darf sich Dinge wünschen, die möglichst nicht zu machen sind, oder Dinge, die man unbedingt als positive Nachricht vermitteln möchte. Mein Rat ist, immer mit den Don‘ts anzufangen, damit wir positiv enden. Frau Worm, wollen Sie starten?
Schulung, allergologische Abklärung und keine Panik, sondern vernünftige Diagnostik und Beratung
Margitta Worm: Jetzt habe ich den Vorteil, dass ich starte, wo es eigentlich Lars Thema ist. Also es ist nun einmal so, wenn man sich mit Anaphylaxie beschäftigt und wenn man Patienten betreut: Die Schulung im Umgang mit dem Autoinjektor ist unser zentrales Anliegen, auch dass es einfach und über kurze Wege von Krankenkassen angenommen wird. Das ist eine wichtige Maßnahme und steigert auch bei Patienten den Einsatz des Notfallmedikamentes. Bei Ärzten würde ich mir wünschen, dass jeder Patient, der gesehen wird, darauf hingewiesen wird, dass eine allergologische Abklärung sinnvoll und nötig ist – und manchmal auch lebensrettend sein kann, wenn wir an die Insektengiftallergie denken, wo es ja gute Therapiemöglichkeiten gibt. Hier wäre es neben dem Wunsch der Schulung, dran zu denken für unsere ärztlichen Kollegen und die Patienten weiterzuleiten.
Axel Enninger: Okay, wunderbar!
Lars Lange: Mein ewiges Credo an die Kollegen: don ’t create panic! Also das heißt, dass die Leute vernünftige Diagnostik machen, vernünftige Beratung machen und nicht einfach sagen: ‚Lassen Sie mal die Erdnuss weg, und wenn Sie Erdnuss essen, stirbt Ihr Kind.‘ Das verursacht unglaubliches Leid in diesen Familien oder unglaubliche Lebensqualitätsveränderungen und nicht nur in den Familien, sondern im ganzen Umfeld. Auch die Erzieherinnen haben anschließend Angst usw. Also, das braucht eine vernünftige, risikobedachte Beratung bei den Patienten, und das ist mir ganz wichtig. Alle eine vernünftige Diagnostik, wie Margitta gerade schon gesagt hat, von einem Allergologen, der sich damit beschäftigt und der jetzt auch nicht sagt: ‚Lassen Sie mal Nüsse weg, ach, Erdnuss auch, ach, Hülsenfrüchte auch, lassen Sie einfach mal alles weg!‘ Das geht nicht, das darf nicht sein!
Axel Enninger: Okay, vielen herzlichen Dank! Ich fand es spannend, viel Neues gelernt. Ich hoffe, dass es unseren Zuhörerinnen und Zuhörern auch so ging. Adrenalin-Autoinjektor, ganz klar, Schulungen, ganz klar, vielleicht ein neuer Aspekt: Tryptase. Vielen herzlichen Dank an Sie beide und an die Zuhörerinnen und Zuhörer: vielen Dank fürs Zuhören. Wir freuen uns erstens über Kommentare, zweitens natürlich über positive Sternchen auf den verschiedenen Plattformen, und wir freuen uns auch immer über Themenvorschläge. Schreiben Sie uns einfach und bleiben Sie uns gewogen und schalten Sie beim nächsten Mal wieder ein! Auf Wiederhören!
Literatur:
Worm M, Lange L (2023) Anaphylaxie-Management. Consilium Themenheft 04·2023, 2. aktualisierte Auflage. InfectoPharm Arzneimittel und Consilium GmbH.
AGATE Arbeitsgemeinschaft Anaphylaxie – Training und Edukation e. V. Schulungsprogramme für Patienten und Eltern von Kindern mit Anaphylaxierisiko; Ausbildungsprogramm und Kontaktmöglichkeiten zu Schulungseinrichtungen: AGATE e. V. www.anaphylaxieschulung.de.
Leitlinie:
AWMF (2021) S2k-Leitlinie „Akuttherapie und Management der Anaphylaxie, Update 2021“. Register-Nr. 061-025, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/061-025.html.
Erklärvideo:
„Anaphylaxie erkennen und handeln“ unter https://www.anaphylaxie.net/de/aufklarungsfilm/. Webseite zuletzt besucht 28.9.2023.
Anaphylaxiepass:
Zum Beispiel unter https://www.gpau.de/media/2015/pdfs/Anaphylaxiepass.pdf. Webseite zuletzt besucht 28.9.2023.
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