consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #40 - 26.01.2024
consilium – der Pädiatrie-Podcast
mit Dr. Axel Enninger
Synkopen: „zu schnell aufgestanden“ oder lebensbedrohend?
Axel Enninger: Heute spreche ich mit:
Prof. Dr. Gunter Kerst
DR. AXEL ENNINGER…
… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.
Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Heute sprechen wir über Synkopen, und wir sprechen mit Professor Gunter Kerst über Synkopen, der seines Zeichens Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin ist, der Kinderkardiologe ist, pädiatrischer Intensivmediziner und Kardiologe für Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern. Gunter und ich kennen uns gut, weil er auch am „Olgäle“, also Olgahospital des Klinikums Stuttgart arbeitet. Er leitet dort das Kinderherzzentrum und das Zentrum für angeborene Herzfehler. Herzlich willkommen, Gunter!
Gunter Kerst: Ja, freut mich, Axel.
Axel Enninger: Wir reden heute über Synkopen, und man könnte sich primär fragen, ist denn der Kardiologe eigentlich der richtige Gesprächspartner für das Thema Synkopen? Wir könnten uns vielleicht überlegen, warum du denn eigentlich der richtige Gesprächspartner bist, und in welchen Situationen wärst du eigentlich der falsche Gesprächspartner?
Gunter Kerst: Ja, also erst mal bin ich gar nicht der richtige Gesprächspartner, sondern der gut ausgebildete Pädiater, den wir hier in Deutschland haben, der ist erst einmal der erste Ansprechpartner, in aller Regel. Es sei denn ein Kind oder Jugendlicher kommt mal über die Notaufnahme, dann komme ich auch mal mit ins Boot, aber erstmal ist die Synkope ja – die häufigste Ursache – benigne. Und ich bin eigentlich nur für die schwierigen Fälle – oder die besonderen Fälle, sage ich mal – zuständig, die auch mit einer lebensbedrohlichen Ursache einhergehen können.
Axel Enninger: Also müssen wir jetzt heute identifizieren, wann wir einen Menschen wie dich brauchen. Das geht ja wahrscheinlich wie immer im Wesentlichen erstmal über eine Anamnese. Auch wenn man mit den Neurologen über Krampfanfälle spricht, so sagen sie immer: ‚Beobachten, beobachten, beobachten. Was war’s denn?‘ Was ist denn dein Rat bezüglich Synkopen?
Gunter Kerst: Naja, häufig gibt’s erstmal, im ersten Schritt, Unklarheiten. Ist es überhaupt eine Synkope? Erfüllt es überhaupt die Kriterien? Und dann, wenn man das sichergestellt hat und andere Ursachen, wie also ein länger anhaltendes Koma, wo auch eine Hypoglykämie eine Ursache sein kann, wenn man erst mal die Synkope definiert hat, muss man eben sicherstellen, ist das die typische benigne Synkope oder handelt es sich möglicherweise auch um etwas Lebensbedrohliches?
Axel Enninger: Und wie mache ich das?
Reflexsynkope, orthostatische Synkope, kardiogene Synkope
Gunter Kerst: Ich frage erst einmal, in erster Linie, sorgfältig nach dem Synkopenhergang. Also was hat zur Synkope geführt? Gab es typische Trigger? Gibt es Hinweise dafür, dass es nicht die typische Reflexsynkope ist? Wir unterscheiden ja erst einmal die Reflexsynkopen von den Orthostase-Synkopen, die ja selten sind, und den kardiogenen Synkopen. Diese drei Hauptgruppen sind es.
((03:50 aktuell))
Axel Enninger: Okay, lass es uns bildlich machen. Die orthostatische Synkope ist der Klassiker. Ich sitze auf dem Sofa, oder noch klassischer, der pubertierende Teenie sitzt auf dem Sofa, steht schnell auf, und ihm wird schwarz vor Augen und er fällt hin. Oder?
Gunter Kerst: Naja, die orthostatische Synkope, die kommt eigentlich eher aus dem Erwachsenenbereich. Sie ist bei uns gar nicht so häufig, sondern da hat man eine primäre Hypotonie. Das Häufigste, das wir im Kindes- und jugendlichen Alter sehen, sind ja die Reflexsynkopen, wo die Kreislauf-Dysregulation im Vordergrund steht, also auch das, was du richtig gesagt hast: Teenager sitzt, typischerweise in diesem Alter zwischen 10 und 21 Jahren, sitzt ziemlich lange oder liegt ziemlich lange, steht dann auf, und mit geringer zeitlicher Verzögerung kommt es dann zu der Kreislauf-Dysregulation und dann zu der vorübergehenden Bewusstlosigkeit.
Am häufigsten Reflexsynkope
Axel Enninger: Lagewechsel: Reflexsynkope. Lagewechsel ist nicht orthostatische, sondern orthostatisch: stehe lange und falle dann hin.
Gunter Kerst: Hm.
Axel Enninger: Auch nicht?
Gunter Kerst: Die Orthostase ist tatsächlich etwas, das wir ganz selten sehen. Wenn ich eine primäre arterielle Hypertension habe, und das ist bei unseren Patienten sehr selten der Fall, das ist bei den Erwachsenen sehr viel häufiger. Also, da gibt es auch primäre neurologische Erkrankungen, aber das ist eigentlich nicht so der Klassiker.
Axel Enninger: Jetzt nochmal die Frage, ob ich das richtig verstanden habe: Der britische Gardesoldat, der da steht mit seiner Fellmütze. Der da in der Sonne steht, und auf einmal – „buff“ – umfällt. Da hätte ich bis jetzt immer gedacht, der gehört in die Gruppe der orthostatischen Synkopen. Ist das falsch?
Gunter Kerst: Na ja, der hat auch eigentlich einen inadäquaten Reflex und gehört deswegen tatsächlich auch zu den Reflexsynkopen.
Axel Enninger: Okay, weil wir denken, dass der kein primäres Hypotonieproblem hat. Er hat kein primäres Blutdruckproblem. Wir gehen davon aus, es ist ein britischer Soldat, der ist eigentlich gesund, und der gehört also auch damit in die Reflexsynkopen-Gruppe. Das heißt, das Allermeiste, was wir sehen, sind Reflexsynkopen.
Gunter Kerst: So ist es, genau.
Axel Enninger: Okay, mach doch vielleicht noch ein paar andere Beispiele für klassische Reflexsynkopen.
Gunter Kerst: Also, es gibt diese klassischen Reflexsynkopen im Jugendlichenalter. Das typische Beispiel haben wir genannt: nach längerem Liegen aufstehen, dann mit typischen Prodromi dann auch, im Rahmen dieser inadäquaten Kreislaufregulation, also Flimmern vor den Augen, schwarz vor den Augen, Hitze-/Kältegefühl, Schweißausbruch und dann eben Synkope: vorübergehender Verlust des Bewusstseins, schlaffer Muskeltonus, vielleicht einzelne muskuläre Entladungen, aber das gehört alles mit zu der typischen Reflexsynkope. Und eben auch diese zeitliche kurze Begrenzung. Andere Beispiele dafür sind im Kindesalter die berühmten Affektkrämpfe.
Axel Enninger: Okay, also sozusagen auch das Kind, das sich nach der Blutentnahme quasi so aufregt, dass er dann irgendwann synkopiert, wär auch eine klassische Reflexsynkope. Und die Kleinen – finde ich ja auch immer spannend – die Affektkrämpfe sind aber eine separate Gruppe?
Gunter Kerst: Ja, Also, sie gehören eben mit zu den Reflexsynkopen, diese sogenannten Affektkrämpfe. Da gibt es die blauen Affektkrämpfe und die blassen Affektkrämpfe. Bei den Blauen ist es so, dass die lange Exspiration dazu führt, mit der niedrigen funktionellen Residualkapazität der Lunge, dass sie über dies Blaue und die Minderversorgung des Gehirns tatsächlich einen Affektkrampf bekommen.
Axel Enninger: Okay, also, das sind die allermeisten. Jetzt drehen wir das mal um. Was sind denn anamnestische Punkte, wo du sagen würdest: ‚Hey, lieber Notaufnahmedoktor, hey, lieber niedergelassene Kollege, wenn du das hörst, musst du wach werden und sagen: ‚Oh, das ist irgendwie vielleicht doch etwas anderes‘?
Typische Trigger
Gunter Kerst: Sollen wir gerade nochmal bei diesen Triggern bleiben? Da hattest du etwas Interessantes angesprochen, und zwar, du sagtest: dieser Schmerzreiz. Das ist eigentlich etwas ganz Klassisches, was auch dafür spricht, dass es eben eine Reflexsynkope ist. Und dazu gibt es noch andere Trigger. Also wir kennen es alle. Alle, die Medizin studiert haben, das erste Mal im OP, da sieht man den offenen Bauch, da stinkt es vielleicht auch noch, das ist auch ein typischer Trigger, eigentlich für die vasovagale oder Reflexsynkope.
Axel Enninger: Also Reflexsynkope, die Diagnose einer Reflexsynkope positiv besetzen, noch weiter nach Triggern fragen, und jetzt drehen wir es mal um. Die negativen Punkte: Wo würdest du sagen, da sind anamnestische Ereignisse, die darauf hindeuten, dass es eben vielleicht doch nicht die Reflexsynkopen sind?
Achtung bei akustischen Stimuli: Long-QT-Syndrom?
Gunter Kerst: Dazu gibt es auch ganz klassische Trigger, und die bezeichnen wir dann auch als Red Flags – neben anderen Zeichen. Aber jetzt erstmal zu den Triggern. Dazu gehören zum Beispiel akustische Stimuli, wie beim Long-QT-Syndrom. Wenn der Wecker plötzlich dann richtig laut schrillt, und ich werde dann synkopal, dann ist es ein ganz klassisches Signal oder klassisches Symptom für ein Long-QT-Syndrom. Und da gibt es auch noch andere klassische Trigger, die „nicht erlaubt“ sind.
Axel Enninger: Also klassischer Trigger für ein Long-QT-Syndrom ist: Der Wecker klingelt, und dann passiert was?
Gunter Kerst: Dann kommt erst einmal die lebensbedrohliche Rhythmusstörung. Da haben wir das Kreislaufversagen und damit dann auch die Synkope. Das wäre typisch für das Long-QT-Syndrom 2, beispielsweise.
Axel Enninger: Spannend! Wenn also der Wecker morgens klingelt, man kriegt Herzrasen, und es geht einem schlecht dabei, in der Tat an Long-QT-Syndrom denken. Wenn sonst der Wecker klingelt, man kriegt Herzrasen und man muss einfach zur Arbeit, dann ist es vielleicht nicht Long-QT-Syndrom. Aber gut. Es geht mir schlecht dabei, bei diesem Herzrasen, und das hatte ich so noch gar nicht gehört. Akustischer Trigger: Long-QT-Syndrom. Können wir engrammieren?
Emotionale Stimuli und Red Flags
Gunter Kerst: Typ 2, ja, ganz klassisch. Man empfiehlt den Patienten dann tatsächlich, sich andere Wecker zu besorgen. Nicht den klassischen Wecker, den wir vielleicht noch aus den frühen Jahren kannten, als es noch keine Handys gab, sondern das sanfte Erwachen ist dann tatsächlich ein Thema und so berät man auch die Patienten, dass sie diese lauten Stimuli eben zu vermeiden haben. Es gibt auch noch andere. Das kennen wir zum Beispiel von der Katecholamin-sensitiven polymorphen ventrikulären Tachykardie. Ein ganz klassischer Trigger ist dort der emotionale Stress. Wenn die, sei es extrem gute Nachrichten oder extrem schlechte Nachrichten oder bei der Mathearbeit extrem unter Druck geraten, dann können sie über diesen emotionalen Stress auch in ihre Kammertachykardie kommen, die auch lebensbedrohlich ist. Also, es gibt Patienten, die habe ich dann begleitet durch solche Mathearbeiten, indem ich ihnen eine gewisse Spur von Tavor gegeben habe, damit sie etwas abgeschirmt sind, und die Anspannung macht es dann wieder wett, und sie haben es dann ohne polymorphe ventrikuläre Tachykardie durch die Klassenarbeiten, durch die Mathearbeiten geschafft.
Axel Enninger: Das finde ich jetzt ganz spannend, aber auch ein bisschen schwierig, weil auch bei emotionaler Anspannung – ich flippe völlig aus, weil ich mich über irgendetwas besonders freue – hätte ich jetzt gedacht, auch dann könnte ich zum Beispiel eine Reflexsynkope erleiden. Aber da sagst du, in besonders starker emotionaler Erregung quasi ausgeknockt zu sein, das ist für dich ein Triggerpunkt, wo du sagen würdest: ‚Da darf der Kardiologe doch mal mitspielen‘?
Gunter Kerst: Also, das ist wirklich etwas Spannendes, was du ansprichst, weil es das tatsächlich selten auch bei der Reflexsynkope gibt. Aber habe ich eigentlich in der Form, müsste ich mal nachdenken, eher selten erlebt. Aber tatsächlich, den emotionalen Stress habe ich bei diesen sogenannten CPVT-Patienten schon mehrfach gesehen.
Axel Enninger: CPVT?
Gunter Kerst: Das ist diese Katecholamin-sensitive polymorphe ventrikuläre Tachykardie. Gibt auch zwei genetische Ursachen dafür. Ich sag mal, ein Fallbeispiel dafür, dann kann man es sich besser einprägen. Fünfzehnjähriger Junge trifft einen Klassenkameraden auf der Straße, es ist tatsächlich so passiert. Die geraten in den Streit, und zwar richtig handfest, und da fliegen nicht nur die Worte, sondern auch sonst geht es richtig emotional her. Der Onkel von dem betroffenen Jungen sieht, wie dieser Fünfzehnjährige zusammenklappt und auf der Straße zusammenbricht, er zerrt ihn in das Auto rein, fängt an, Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen, also zu beatmen und auch Thoraxkompression durchzuführen, bis er wieder wach wird. Jetzt war das Ganze anamnestisch schwierig, Migrationshintergrund, wie das eben immer wieder mal vorkommen kann. Erst einmal hört sich diese Geschichte sehr, sehr komisch an. Wir haben es dann aber Monate später tatsächlich klären können, und zwar, wie gesagt, die Anamnese war erschwert. Es stellte sich dann heraus, dass er von den Großeltern großgezogen wird, weil die Mutter schon verstorben ist, im Alter von 29 Jahren, sitzend am Esstisch. Also auch dort, welcher Trigger das auch immer war, das konnten wir anamnestisch nicht eruieren, aber auch wahrscheinlich irgendetwas Emotionales. Zusammengeklappt und tot umgefallen letztendlich. Wir haben dann den genetischen Nachweis führen können bei diesem 15-Jährigen, dass es tatsächlich diese Katecholamin-sensitive polymorphe ventrikuläre Tachykardie ist.
Axel Enninger: Also, Red Flag: der Wecker für Rhythmusstörungen, emotionaler Erreger als Red Flag, sonstige Red flags?
Gunter Kerst: Auch beim Long-QT-Syndrom Typ 1, der Kontakt mit Wasser, das Schwimmen. Wird auch dann verboten oder kann nur noch unter bestimmten Auflagen möglich sein. Also der Kontakt mit Wasser und dann plötzlich ein lebensbedrohliches Ereignis, ist ganz der große Klassiker für das Long-QT-Syndrom.
Axel Enninger: Also der Kopfsprung ins kalte Wasser oder überhaupt das kalte Wasser?
Gunter Kerst: Ja, ist wahrscheinlich ist es tatsächlich, dass über die verlängerte Repolarisation, wenn der Mensch in Kontakt mit Wasser kommt, wahrscheinlich mit kaltem Wasser, dann die Herzfrequenz so stark ansteigt, dass es dann zu diesen Torsaden kommt.
Axel Enninger: Okay.
Gunter Kerst: Über den Herzfrequenzanstieg. Wahrscheinlich ist dann schon auch die Wassertemperatur entscheidend, geklärt ist es meines Wissens nicht.
Axel Enninger: Also, Wasser / kaltes Wasser: Okay. Weitere Red Flags?
Gunter Kerst: Ja auch noch etwas, was wir so nicht sehen bei der typischen Reflexsynkope, die wir am Anfang besprochen haben: Wenn eine Synkope unter körperlicher Belastung auftritt. Also richtig Sport machen, und plötzlich fällt man tot um.
Axel Enninger: Das, glaube ich, haben viele von uns auch engrammiert. Das mit dem Wecker, wie gesagt, hatte ich so nicht auf dem Schirm. Unter Belastung entstehender Ausnahmezustand / Synkope. Wann ist denn die Grenze zwischen „unter Belastung“ und „nach der Belastung“? Das gibt’s ja auch, die Leute, die sich wirklich massiv verausgabt haben, dann, nach einem 800-Meter-Lauf irgendwie völlig schlapp auf der Wiese liegen und dann ihr Bewusstsein verlieren. Bis wann zählt das noch zu „unter Belastung“ und „nach Belastung“?
Gunter Kerst: Schwierige Frage! Also, es gibt eben diejenigen, die sich gut körperlich ausbelasten, dann die Peripherie weitstellen und dann mit einem gewissen Volumenmangel in die klassische Reflexsynkope kommen nach der körperlichen Belastung. Aber da wird schon ein bisschen haarig, auch anamnestisch, und da will man schon eher sicher gehen, dass man solch einen Patienten nochmal etwas eingehender kardiologisch untersucht.
Axel Enninger: Also, „unter Belastung“ ist klar, die Grenze zu „nach der Belastung“ ist ein bisschen unklar, aber grundsätzlich ist das vielleicht doch eine Qualifikation für Diagnostik. Gibt es sonstige Punkte, wo du sagen würdest, da muss man hellhörig werden? Ich sage jetzt mal Patienten, die aus deiner Ambulanz kommen, Patienten, die irgendwelche Herzfehler haben?
Gunter Kerst: Vielleicht noch abschließend zu dem, was wir angesprochen hatten, was ist alles nicht so ganz typisch für die benigne Synkope. Wir hatten die Prodromi erwähnt, die fehlen dann eben häufig bei den gefährlichen Synkopen. Also da tritt das einfach aus dem Wohlbefinden heraus auf ohne irgendwelche sensorischen Aspekte…
Axel Enninger: Kalt schwitzen usw.
Gunter Kerst: Genau diese Symptome, sondern ohne Prodromi verliert der Mensch dann plötzlich sein Bewusstsein. Und natürlich auch das, was wir gelernt haben, bei der Mutter des 15-Jährigen, 30 Jahre, am Küchentisch sitzend, aus dem Sitzen oder Liegen heraus, ist auch „verboten“.
Herzfehler und Synkopen
Axel Enninger: Also Familienanamnese. Wenn es heißt, die Mutter aber verstorben, in der Tat, dann dran denken. Dann kommen wir mal zu denen, die einen Herzfehler haben und bei euch in der Ambulanz sind. Darf man da eine Reflexsynkope haben oder nicht, oder kann man das irgendwie unterscheiden?
Gunter Kerst: Darf man auch. Ja, man darf ja „Läuse und Flöhe“ haben. Es wird dann aber ein bisschen schwieriger, auch da natürlich. Wenn ich die ganz klassische Anamnese habe mit Prodromi, mit klarem Schmerzreiz, auch bei der Impfung kann so etwas ja passieren, haben wir auch schon gehabt, kann auch tatsächlich mit Asystolie einhergehen. Es ist sehr eindrücklich und für die Familie sehr verstörend, aber zum Glück ja benigne. Das kann natürlich auch ein Patient mit angeborenem Herzfehler haben. Aber bei stattgehabter Herzoperation gibt es die klassischen Herzfehler, wo man sagen muss, wenn diese Anamnese nicht dazu passt, vermutet man lieber etwas anderes und sichert sich da ab. Nicht, dass er dann plötzlich eine Synkope hat mit kardialer Ursache, die dann eben auch lebensbedrohlich sein kann.
Axel Enninger: Das heißt, operierte Kinder sind auf alle Fälle „strenger“ zu betrachten als andere.
Gunter Kerst: Ja.
Axel Enninger: Gibt’s Kinder mit Herzfehler, die nicht operiert sind, und wo du sagen würdest, die kann man so behandeln wie alle anderen, oder kann man sagen, jeder mit einem angeborenen Herzfehler qualifiziert sich, sag ich mal, zumindest mal für ein EKG?
Gunter Kerst: Also nicht jeder mit angeborenen Herzfehler. Ist ja die Frage, was bezeichnet man als Herzfehler. Der kleine Vorhofseptumdefekt spielt keine Rolle, der kleine VSD spielt keine Rolle, auch eine operierte Aortenisthmusstenose, die keinen Restgradienten hat, da vermuten wir eigentlich, dass da gar nichts ist. Aber eben bei allen, die im ventrikulären Myokard Operationen hatten, wo Patches eingenäht worden sind, wie bei der fallotschen Tetralogie oder wie bei VSDs, sollte man schon hellhörig werden und nochmal genauer nachfragen, ob das wirklich auch die klassische Anamnese ist, und wenn nicht, dann weitere diagnostische Schritte einleiten.
Axel Enninger: Das leuchtet ein. Wenn man operiert hat, kann man sich vorstellen, dass da die Leitungsbahnen auch betroffen waren. Das kapiere ich. Meistens kommen ja Reflexsynkopen doch aus heiterem Himmel. Könnte Schmerz uns weiterhelfen.
Gunter Kerst: Also was auch „verboten“ ist, ist eine Synkope zu erleiden, nachdem man vorher thorakale Schmerzen hatte.
Axel Enninger: Okay, Thoraxschmerzen: Warnsignal!
Gunter Kerst: Warnsignal, ja. Also nicht – das kann man auch gut abgrenzen – der muskuloskelettale Schmerz im Bereich des Brustkorbes – dort haben wir ja auch Muskeln und die Rippen sind ja auch mit dem Periost gut innerviert. Da kann man draufdrücken, da kann man nach der Atemabhängigkeit fragen. Aber wenn es in Richtung pectinöser Schmerz geht, müssen natürlich alle Alarmglocken läuten.
Axel Enninger: Okay! Gibt es Altersabhängigkeiten, wo man sagen würde: ‚Mensch, so jung und schon eine typische Synkope.‘ Gibt es da so einen Cutoff oder etwas, wo du sagen würdest: ‚Hee, bei den besonders Kleinen muss man besonders aufpassen‘?
Gunter Kerst: Wenn sie kleiner sind als zehn Jahre und nicht die klassische Anamnese haben für einen Affektkrampf, dann würde ich ein zweites Mal hingucken. Es ist alles erst einmal die Anamnese, um das nochmal zu betonen. Ich sage immer, ich versuche, die Anamnese so zu erheben, dass ich das wie einen Film vor mir sehe: Wo war der Patient, was hat er genau gemacht, was hat er vorher gemacht? Wo ist er hingelaufen oder was ist genau passiert? Und was man auch nicht vergessen darf, ist die Medikamenten-Anamnese.
Obacht bei einigen Medikamenten
Axel Enninger: Das hätte ich jetzt als Nächstes gefragt. Du hast Anamnese schon erwähnt, also Familienanamnese ganz wichtig, plötzlicher Herztod, Ereignisse in der Familie oder Menschen, die unklar früh verstorben sind, aus scheinbar heiterer Gesundheit, und dann Medikamente. Da haben wir alle irgendwann mal im Studium irgendwelche Kreuzchen gemacht bei bestimmten Medikamenten, die schwer verdächtig sind. Was ist denn aus deiner Erfahrung etwas, worauf wir wirklich achten müssen bei Medikamenten?
Gunter Kerst: Es gibt die klassischen Medikamente, die zu einer Verlängerung der QT-Zeit führen, und nach denen sollte man gezielt fragen oder im Zweifelsfall auch mal nachschauen, wenn eben die Anamnese nicht typisch ist.
Axel Enninger: Okay, No. 1, erinnern wir alle noch, sind zum Beispiel Makrolid-Antibiotika. Das ist ja sozusagen für den Kinder- und Jugendarzt Nr. 1. Das wird wahrscheinlich das Allerhäufigste sein. Alle Makrolide?
Gunter Kerst: Ähm, alle, die mir jetzt gerade einfallen, das Erythromycin, das Azithromycin, aber auch die Chinolone.
Axel Enninger: Die anderen Antibiotika nicht. Okay, aber Antibiotika ist da tatsächlich etwas relativ Häufiges, andere Substanzgruppen?
Gunter Kerst: Auch da die Klassiker: die Antidepressiva. Die trizyklischen Antidepressiva und auch die Serotonin-Reuptake-Inhibitoren. Das sind sie erst einmal.
Axel Enninger: Dann gib es Dinge, die der Kardiologe eher verordnet. Das kann man sich schon vorstellen, dass da wahrscheinlich einige Potenzial haben, Rhythmusstörungen auszulösen. Gibt’s da Klassiker?
Gunter Kerst: Also, wir haben jetzt ja ganz viele QT-verlängernde Medikamente schon besprochen. Antiemetika haben wir übrigens noch nicht erwähnt. Das Ondansetron, das ja auch häufig verschrieben wird, sollte man da auch einmal genannt haben. Wenn wir an das Brugada-Syndrom denken, dann sind andere Medikamente hoch-verdächtig.
Axel Enninger: Hilf mir auf die Sprünge: Was ist Brugada-Syndrom?
Gunter Kerst: Brugada-Syndrom, das haben drei Brüder in den 90er-Jahren entdeckt, ist eine Ionen-Kanal-Erkrankung. Typischerweise ist ein Natrium-Kanal betroffen und typischerweise auch wiederum das männliche Geschlecht nach der Pubertät. Vor allen Dingen in Südostasien sehr häufig auftretend, und dort ist die Manifestation der Synkope typischerweise, gemeinerweise, auch in der Nacht. Sie versterben in der Nacht, praktisch dann, wenn der Parasympathikus überwiegt. Sie kriegen polymorphe ventrikuläre Rhythmusstörungen und es führt in Südostasien dazu, dass sie sich zum Teil als Frauen verkleiden, in der Hoffnung, dass sie eben nicht vom plötzlichen Herztod überrascht werden.
Axel Enninger: Das verstehe ich nicht.
Gunter Kerst: Ein einfacher Mythos, dass man glaubt, wenn man in Frauenkleidern ist, dass man dann keinen plötzlichen Herztod bekommt. Aber das ist die Hoffnung.
Axel Enninger: Okay, spannend und wo ist der Zusammenhang mit dem Medikament?
Gunter Kerst: Da wissen wir, dass Klasse-Ic-Antiarrhythmika genau das machen können: polymorphe ventrikuläre Tachykardien, die dann auch gefährlich sind und zum Kreislaufstillstand führen können. Also, wenn man so eine Anamnese hat, dann hat man es schon fast über die Anamnese und die Medikamente bewiesen.
Axel Enninger: Da würde uns jetzt der junge Assistenzarzt schwer beeindrucken, wenn die Anamnese so lautet, und er dann sagt: ‚Ich glaube, der könnte ein Brugada-Syndrom haben.‘
Gunter Kerst: Ja. Also, wie man es sich auch gut merken kann. Beim Brugada-Syndrom finden wir nur in 35 % aller Fälle einen genetischen Nachweis, wo dieser Ionen-Kanal betroffen ist, und deshalb gibt es dort den Ajmalin-Test. Ajmalin, das Antiarrhythmikum macht eben genau diese Veränderungen des QRS-Komplexes und kann dann auch ventrikuläre Tachykardien induzieren.
Axel Enninger: Okay, klingt aber nach einem eher gefährlichen Test. Das machen wir in keiner Praxis, und immer schön beim Kinderkardiologen.
Gunter Kerst: Das machen wir auf Intensivstation mit entsprechender Nachbeobachtung.
Axel Enninger: Alles klar. Du hattest Antiemetika schon angesprochen, und Ondansetron hatten wir in der Tat mal relativ regelmäßig eingesetzt bei Kindern mit einer Gastroenteritis. Das war natürlich off–label. Es ist ja häufig in der Onkologie eingesetzt, das Antiemetikum, und wir haben es in der Tat aus der Behandlung der akuten Gastroenteritis, wenn sie so übel erbrechen, wieder rausgenommen wegen dieses arrhythmogenen Potenzials. Jetzt gibt’s da, doch relativ häufig noch verordnet, Methylphenidat. Kleiner Querverweis auf die ADHS-Folge mit Herrn Dr. Frölich, die wir in dieser Podcastreihe auch schon gesendet haben. Methylphenidat – jeder der es einnimmt, hat einen Rhythmusrisiko oder nicht?
Gunter Kerst: Ja, eine wirklich schwierige Frage. Erstmal, wenn man sich große Studien anguckt, muss man sagen, das Risiko ist minimal erhöht, und die aktuelle Leitlinie sagt, muss man eigentlich nicht machen, wenn man anamnestisch und in einer körperlichen Untersuchung, sorgsam, keine Hinweise auf einen angeborenen Herzfehler gefunden hat.
Axel Enninger: Okay, passt zum Glück zu dem, was der Experte zu ADHS gesagt hat. Du hast nicht widersprochen.
Gunter Kerst: Das freut mich, aber es ist nicht so ganz ohne. Ich bin nicht der ADHS-Experte, aber ich habe auch schon Dinge erlebt unter Methylphenidat, so auch einen Herzinfarkt bei einem Sechsjährigen, also so ohne ist es nicht. Aber es hilft halt eben nicht… er hatte ja vor der Einnahme ein normales EKG. Er nimmt sein Methylphenidat, der sechsjährige Junge, die Dosis wird erhöht, und er erleidet tatsächlich eine Dissektion seiner rechten Coronararterie. Aber das erste EKG hat da eben nicht geholfen, und die Trefferquote ist so gering. Es gibt aber international auch noch unterschiedliche Vorstellungen dazu, ob wir ein EKG machen sollten. Bisher ist es so in der Leitlinie, dass vor allen Dingen in der Anamnese und einer körperlichen Untersuchung der Hinweis auf eine Herzerkrankung ausgeschlossen sein sollte. Dann muss kein EKG abgeleitet werden. So ist die momentane Sicht, zumindest einmal in Deutschland.
Axel Enninger: Jetzt hatten wir vorhin die Gruppe der Medikamente erwähnt, und bei der Gruppe der Medikamente steht ja immer die Sorge dahinter, dieser Mensch könnte ein Long-QT-Syndrom haben und das Medikament sozusagen „demaskiert“ das Ganze. Was sind denn Dinge, die einen Symptomkomplex beim Long-QT-Syndrom von der Synkope unterscheidet, oder kann ich das gar nicht so richtig unterscheiden?
Gunter Kerst: Also beim Long-QT-Syndrom haben wir schon zwei Trigger genannt: Kontakt mit Wasser oder akustische Stimuli, das sind die Klassiker. Beim Long-QT-3 ist es eher in Ruhe auftretend, die polymorphe ventrikuläre Tachykardie, und wenn ich das anamnestisch habe oder noch besser eigentlich die Familienanamnese, dann nähere ich mich schon recht gut dem Long-QT-Syndrom.
Axel Enninger: Wie oft steckt eine positive Familienanamnese beim Long-QT-Syndrom dahinter? Kann man das sagen?
Gunter Kerst: Wir sehen sie häufig auch als Neumutation in einer nicht betroffenen Familie. Daran muss man auch denken. Also die Familienanamnese hilft einem letztendlich nicht immer weiter.
Axel Enninger: Okay, also gibt’s sozusagen spontan. Aber trotzdem, wenn ich eine positive Familienanamnese habe, heißt das, ich brauch Diagnostik.
Gunter Kerst: Definitiv ja.
Axel Enninger: Wenn wir uns jetzt entschieden haben zu sagen: ‚Das ist anders als das, was wir üblicherweise erwarten bei den Synkopen‘, und wir sagen: ‚Da gibt es Risikofaktoren oder Red Flags‘, die wir vorhin erwähnt haben, welche Diagnostik wünscht sich denn der Kinderkardiologe?
Gunter Kerst: Jetzt beim Long-QT-Syndrom speziell?
Zuerst die pädiatrischen Kernkompetenzen
Axel Enninger: Generell, wenn wir jetzt sagen, da gibt’s Warnhinweise, da gibt’s Red Flags, was reicht? Reicht dir ein Ruhe-EKG, brauchst du ein Langzeit-EKG? Was brauchst du?
Gunter Kerst: Also, ich will vielleicht nochmal einen Schritt vorher einhaken. Wir haben, wie ich anfangs sagte, tolle Pädiater. Die können eigentlich noch einen Schritt weiter machen, die können wirklich noch mal die körperliche Untersuchung komplettieren. Also nach der Anamnese, Medikamentenanamnese, Familienanamnese sich dann tatsächlich auf das verlassen, was sie extrem gut können: körperliche Untersuchung, Auskultation und übrigens den Blutdruck nicht vergessen, an allen vier Extremitäten. Wenn dann die Anamnese erst einmal die benigne Synkope wahrscheinlich macht, dann ist sowieso ein Haken dran zu setzen. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann kommen wir ja gerne ins Spiel und denken mit und begeben uns auf einen Weg, den ich häufig vergleiche mit einem Detektivweg. Wir sammeln dann so Puzzleteile. Ist es eher unter körperlicher Belastung gewesen, müssen wir vielleicht noch mal… Also natürlich machen wir erst einmal ein Ruhe-EKG, und dann, je nach der Anamnese, gucken wir möglichst spezifisch, dass wir es eingrenzen, in welche Richtung es geht. Es gibt ja, beim 12-Kanal-EKG sehen wir zum Beispiel die deutliche QT-Verlängerung, oder wir sehen den Rechtsschenkelblock, ähnliches Bild wie beim Brugada-Syndrom. Sonst gehen wir wie folgt weiter: Der typische Weg ist dann Belastungs-EKG, Langzeit-EKG, und ja, wenn wir dann wirklich immer noch mit leeren Händen dastehen, da müssen wir drüber nachdenken, welchen diagnostischen Schritt gehen wir. Es gibt dann ja noch die Möglichkeit, sogenannte Eventrekorder unter die Haut zu implantieren. Das ist kein großer Eingriff, ist im Prinzip vergleichbar mit einem Piercing, sage ich immer zu den Eltern, damit man sich etwas drunter vorstellen kann. Damit wird jeder Herzschlag aufgezeichnet und im Speicher wieder verworfen, bis eben dann die Rhythmusstörung kommt.
Axel Enninger: Und das macht man wie lange?
Gunter Kerst: Zwei, drei Jahre, so lange halten die Batterien von den Eventrecordern, um dann beim nächsten Ereignis eben festzustellen, was war das eigentlich genau? Wir haben das Kardio-MRT noch zur Verfügung, den Katheter, auch, um eine Coronar-Anomalie auszuschließen.
Axel Enninger: Echo hast du nicht gesagt, aber Echo hättet ihr eh auf den Weg gebracht, oder?
Gunter Kerst: Auf jeden Fall. Genau, das steht natürlich an erster Stelle, wo wir uns auch die Coronararterien angucken, wo wir strukturelle Auffälligkeiten vom Myokard sehen können, und sonst kommt natürlich in der Reihenfolge, das Kardio-MRT, der Katheter auch mit Biopsie-Möglichkeit, und so kriegen wir dann schon typischerweise heraus, was der Patient dann eigentlich für eine Erkrankung hat.
In 3 von 100 Fällen kardiogene Synkope
Axel Enninger: Lass uns das trotzdem nochmal wiederholen. Das ist selten. Können wir irgendwie eine Verhältnis bilden von denen, die kommen und eine harmlose vasovagale Synkope haben, zu denen, die am Ende eine definierte Rhythmusstörung, Long-QT-Syndrom, WPW-Syndrom – was auch immer – haben? Kann man das irgendwie sagen? Gibt’s dazu Daten?
Gunter Kerst: Ja, also zumindest in etwa kann man es sagen. Während benigne Synkopen so in etwa 70 % aller Fälle ausmachen, liegt die kardiale Synkope bei 3 %.
Axel Enninger: 3 % ist aber nicht nix, und die 3 % wollen wir natürlich nicht übersehen.
Gunter Kerst: Auf keinen Fall.
Axel Enninger: Das ist ja auch Sinn des Gespräches, dass wir tatsächlich da unsere „Punkte sammeln“. Wir sammeln sie eben über die Anamnese, über die Familienanamnese und vor allem, wie du so schön sagtest, über „den Film“, den du dir vor deinem Auge ablaufen lässt. Aber wir können vielleicht, auch wenn es selten ist, auch wenn wir über 3 % reden, kannst du uns vielleicht einen Einblick in das geben, was du so machst. Denn Rhythmusstörungen sind ja quasi „dein Steckenpferd“, und du bist ja, sag ich mal, mindestens bundesweit bekannt dafür, dass du viel Zeit im Herzkatheter verbringst und viel Zeit auch in deinem elektrophysiologischen Labor verbringst, um Leitungsbahnen zu finden, die da irgendwie nicht hingehören. Gib uns doch nochmal ein bisschen einen Einblick, was du so treibst.
Eine Deltawelle gehört abgeklärt
Gunter Kerst: Ich fange mal mit dem ganz Einfachen an, was eben auch häufig in der allgemeinen pädiatrischen Praxis gesehen wird, sofern man dort ein EKG hat. Aber die einfache Deltawelle, also das WPW-Syndrom ist tatsächlich auch etwas, das lebensbedrohlich sein kann. Das ist mir ein besonderes Anliegen, das haben wir in den letzten Jahren gelernt, dass es nicht so harmlos ist. Also die durchgehende Präexzitation mit der Deltawelle, so wie wir das alle einmal schön gelernt haben, ist keine harmlose EKG-Anomalie, sondern gehört, wenn sie persistierend da ist, immer abgeklärt ab dem 5. Lebensjahr. Und warum? Diese Deltawelle ist nichts anderes beim WPW-Syndrom als eine Muskelbrücke, die den AV-Knoten umgeht. Der AV-Knoten hat eine Filterfunktion und bremst Vorhofrhythmusstörungen auf ein vernünftiges Maß runter. Deshalb ist der Vorhofflimmerer im Erwachsenenalter, ich sag mal so, der typische 70-, 80-Jährige mit Vorhofflimmern, fällt ja nicht tot um, allenfalls hat er eine Kammertachykardie, weil das Vorflimmern tachykard übergeleitet wird, aber er fällt nicht um. Beim WPM-Syndrom ist das anders. Da werden diese hohen Frequenzen des Vorhofes mit 300 bis 600 pro Minute schnell auf die Kammern übergeleitet, und so wird dann aus dem Vorhofflimmern Kammerflimmern. Wir sehen in der Region hier im Süden schon in etwa einen Jugendlichen pro Jahr, der plötzlich, ohne dass man etwas wusste, reanimiert wird. Wir hatten jetzt erst vor wenigen Monaten wieder einen 17-Jährigen auf der Station, er ist bei der Arbeit reanimiert worden, und danach, im EKG, hat man tatsächlich diese Deltawelle gesehen. Erstmanifestation vom asymptomatischen WPW-Syndrom: der plötzliche Herztod!
Axel Enninger: Okay, das heißt, der Appell des Kinderkardiologen ist: Wenn Sie in Ihrer Praxis ein EKG schreiben und Sie sehen eine Deltawelle, nehmen Sie es ernst. Leiten Sie die Abklärung bald ein und sagen Sie nicht: ‚Es wird schon irgendwie.‘ Sondern ich sehe eine Deltawelle, ich brauche einen Kinderkardiologen.
Gunter Kerst: So ist es richtig, ab dem 5. Lebensjahr wissen wir das, weil wir auch im Katheterlabor so viel sicherer geworden sind, dass wir diese Bahnen mit über 98-%iger Wahrscheinlichkeit ohne Komplikationen beheben können und damit eben solche Reanimationen verhindern können. Ich war übrigens gerade ein bisschen inexakt, und als Kinderkardiologe muss ich das nochmal gerade rücken. Das WPW-Syndrom ist ja definiert über die Deltawelle und die supraventrikuläre Tachykardie, die Re-Entry-Tachykardie das ist das WPW-Syndrom. Wenn wir nur die Deltawelle sehen, dann sprechen wir von dem „WPW-Muster“, und auch da nochmal: Diese sogenannte asymptomatische Präexzitation ist eben nicht harmlos und gehört abgeklärt.
Axel Enninger: Wenn du jetzt ein echtes WPW-Syndrom diagnostizierst, ist dein Ziel als Kinderkardiologe, zu gucken, dass er nicht irgendwann mal so schnell losrast, dass er dann in den plötzlichen Herztod rast, und dann machst du was mit dieser Leitungsbahn?
„Nur eine abladierte Bahn ist eine gute Bahn!“
Gunter Kerst: Also, ich kann eigentlich nur auf zwei Arten und Weisen sichergehen, dass der nicht losrast, und zwar indem die Deltawelle auch bei mittelhohen Herzfrequenzen schon nicht mehr da ist, also diese Muskelbrücke nicht mehr leitet. Das ist das eine. Dazu brauche ich dann noch nicht mal einen Katheter, aber da muss man aufpassen, auch da liegt der Teufel im Detail! Wir sollten übrigens die Eltern da nicht zu sehr verunsichern, sondern uns unter uns als Ärzten erst einmal abstimmen, dass wir die Eltern beruhigen und dann einen guten Weg vorzeichnen. Im Katheterlabor gucken wir uns die Leitungszeiten an und können tatsächlich testen, wie schnell diese Vorhoffrequenzen auf die Kammer übergeleitet werden. Auch da gibt es eine gewisse Unschärfe. Viele Elektrophysiologen bringen es deswegen wie folgt auf den Punkt: Nur eine Bahn, die weg ist, ist eine gute Bahn. Weil sie dann auch tatsächlich so zerstört ist, dass sie nicht mehr diese schnellen Vorhoffrequenzen überleiten. Das ist der sicherste Weg.
Axel Enninger: Das siehst du auch so?
Gunter Kerst: Ich gehe immer so vor, es sei denn, es gibt Sondersituationen, wo diese Bahn zum Beispiel am AV-Knoten ist. Dann können wir besonders sicher vorgehen, indem wir keine Hitzeenergie nehmen, sondern die Kälteenergie. Aber trotzdem, es gibt auch Bahnen, die sind direkt am AV-Knoten, so dass man sich dann entscheiden müsste, theoretisch. Lebe ich damit, bei einem Kind einen AV-Block zu machen, sodass eine Schrittmacher Implantation notwendig ist? Das mache ich nie alleine am Kathetertisch, sondern in einem solchen seltenen Fall – das sind wirklich seltene Fälle, deutlich unter 1 % – bespreche ich es mit den Eltern: die Gefährdung durch die Bahn auf der einen Seite, aber auch das Risiko, das sich langfristig ergibt, durch eine Schrittmacherimplantation. Bisher, zum Glück, stand ich nie vor der Wahl, aber theoretisch ist das möglich.
Axel Enninger: Okay, das heißt, du suchst die Bahn. Du suchst die Bahn, die da eigentlich nicht hingehört. Wie habe ich mir das vorzustellen? Da gibt’s irgendwie Strom oder Kälte oder wie geht man an diese Bahn ran?
Gunter Kerst: Also heutzutage oder seit mehr als 20 Jahren gibt es zwei sehr gute Energieformen. Das eine ist die, was ich als Hitzeenergie bezeichnet hatte, Radiofrequenzenergie, im Prinzip im Wellenspektrum wie die Mikrowelle. Die wird aber über die Katheterspitze appliziert und führt dazu, dass über diese hohen Frequenzen resistive Hitze entsteht und darüber das Gewebe verödet wird. Vorher haben wir nachgewiesen, dass der Katheter genau an der Stelle der Bahn liegt, und so wird dann über diese resistive Hitze die Bahn abladiert. Aber das geht mit der Kälte genauso. Die Kälte hat Vorteile, aber auch Nachteile. Der Vorteil ist der, Kälte ist so langsam, dass sie extrem sicher ist. Da muss ich viele Sekunden, wenn nicht sogar Minuten auf der Bahn stehen, bis sie kaputtgeht. Dazu erzähl ich immer gerne ein Experiment. Die Menschen waren schon früher auch sehr erfinderisch. In den 60er Jahren, in einer Science-Publikation, haben sie sich das Hundeherz angeguckt, und an dem Hundeherz erkläre ich immer gerne, warum die Kälteenergie so sicher ist. Sie haben den AV-Knoten auch unter Kälte gesetzt, bei –30 °C für 24 Stunden. Dann haben sie es aufgetaut und haben zeigen können, dass der AV-Knoten immer noch funktioniert. Also, wenn ich Kälte sehr sorgsam einsetze, bin ich extrem sicher. Das ist sozusagen das, was man aus dieser Geschichte lernen kann.
„Dann ist das wohl psychosomatisch…“? Nein, organische Besonderheit
Axel Enninger: Gut, kommen wir vielleicht zurück aus der Highend-Herzkatheter-Welt, in die, ich sag jetzt mal, nicht das Gegenteil, aber zumindest in das, was viele Eltern ja bewegt: Können denn Synkopen / Herzrhythmusstörungen psychosomatische Ursachen haben?
Gunter Kerst: Nein, also, die können vielleicht da etwas begünstigt werden, aber die typische Rhythmusstörung des Kindesalters ist davon völlig unabhängig. Das ist eine organische Erkrankung oder eine organische Besonderheit, um es neutraler zu formulieren. Wenn ich eine zweite Leitungsbahn habe, dann leitet die eben, und das kann ich psychisch nicht beeinflussen, sondern die Rhythmusstörung kommt dann, getriggert durch eine Extrasystole Vorhof oder Kammer, und diese Extrasystolen, die haben wir alle, und die kommen dann eben meistens, wenn man es nicht braucht als Kind. Entweder bei der Mathearbeit oder vielleicht auch mal in Ruhe. Aber solange diese Bahn da ist, kann ich die weder mit Yoga noch mit irgendwelchen Kügelchen behandeln, sondern die wird irgendwann mal benutzt, wenn man sie nicht braucht, und auch über eine Dauer, bis diese kreisende Erregung zusammenbricht. Aber psychisch kann ich das nicht behandeln und auch nicht, wenn es sich um sogenannte Ektopien handelt, also wenn zum Beispiel Vorhofmyokard einfach vor sich hin feuert, dann kann ich das auch nicht psychisch wesentlich beeinflussen. Auch nicht im Kammermyokard, sondern da brauche ich entweder Medikamente oder eben eine Verödung über den Katheter.
Axel Enninger: Also in diesem Fall wenig Einfluss. Rezidivierendes Herzrasen behandeln wir nicht mit Yoga, das haben wir jetzt auch gelernt. Wunderbar! Gunter, es gibt eine Tradition in diesem Podcast, und die heißt Dos & Don‘ ts. Du darfst Dinge loswerden, die du gerne positiv als Nachricht unterbringen möchtest, also Dinge, die du den Kolleginnen und Kollegen unbedingt empfiehlst und umgekehrt oder und/oder umgekehrt: Du darfst Dinge loswerden, von denen du auch dringend abrätst. Die Reihenfolge ist egal. Ich empfehle immer, eher mit den Don ‘ts anzufangen, damit man mit einer positiven Nachricht endet.
„Einmal ist keinmal“ gilt nicht; vor dem Überweisen pädiatrisch abklären; den „Film“ entstehen lassen; Red Flags beachten
Gunter Kerst: Also, ja, finde ich einen guten Vorschlag. So machen wir‘s. Erst mal die Don ‘ts, was sollte man nicht tun? Die Synkope verharmlosen, sondern sorgfältig arbeiten. „Einmal ist keinmal“ gilt nicht, sondern auch gerade dann wäre es tragisch. Wir haben zwar nur eine geringe Wahrscheinlichkeit mit 3 % für kardial bedingte Synkopen, aber wenn wir falsch liegen, kann auch die erste Synkope die letzte sein oder das zweite Ereignis dann das letzte sein. Der zweite Punkt ist der: Was man nicht machen sollte, ist, einfach mal so an Kinderkardiologen überweisen. Man kann den Eltern viel Sorge nehmen über das, was wir besprochen haben: eine gute Anamnese, eine gute körperliche Untersuchung. Damit können wir wirklich die weit überwiegende Mehrzahl von Patienten beruhigen und sagen: ‚Es ist alles gut, das hat eine exzellente Prognose, selbst wenn es noch mal auftaucht, aber das verwächst sich mit dem Älterwerden.‘ Und man kann da so ein paar allgemeine Maßnahmen nennen. Aber eben das sollte man nicht tun, einfach so sagen: ‚Okay, Synkope, geht gleich zum Kinderkardiologen.‘ Das ist nicht notwendig. Zu den Dos, die haben wir eigentlich auch, finde ich, sehr schön herausgearbeitet. Die Anamnese wie ein Film, das hilft, denke ich, um das möglichst sauber einzuklassifizieren: Das ist eine benigne Reflexsynkope, was wir in aller Regel haben im Kindes- und Jugendlichenalter. Und das Zweite, der zweite wichtige Punkt ist: die gesamten Red Flags beachten, die wir auch ausführlich besprochen haben.
Axel Enninger: Okay, vielen herzlichen Dank! Und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, vielen Dank fürs Zuhören. Wir freuen uns über Kommentare. Wir freuen uns auch über positive Bewertungen in den verschiedenen Foren. Da können sie uns Sternchen geben. Wir freuen uns über viele Sternchen. Wir freuen uns auch über Anregungen zu neuen Themen oder auch zu Vorschlägen zu neuen Gesprächspartnern. Vielen herzlichen Dank fürs Zuhören, und bis zum nächsten Mal. Auf Wiederhören!
Gunter Kerst: Auf Wiederhören!
Hilfreiche Informationen:
Leitlinien:
AWMF (2020) S2k-Leitlinie Synkope im Kindes- und Jugendalter. Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Kardiologie und angeborene Herzfehler e. V. AWMF-Register Nr. 023/004.
AWMF (2020) Synkopen. S1-Leitlinie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. AWMF-Register Nr. 030/072.
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