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consilium - DER PÄDIATRIE-PODCAST - Folge #27 - 28.04.2023

consilium – der Pädiatrie-Podcast

mit Dr. Axel Enninger

consilium Podcast mit Dr. Axel Enninger

Autismus: „Leben im Spektrum“ ist anders als im Film

Axel Enninger: Heute spreche ich mit:

PROF. DR. INGE KAMP-BECKER.

 


DR. AXEL ENNINGER…

… ist Kinder- und Jugendarzt aus Überzeugung und mit Leib und Seele. Er ist ärztlicher Direktor der Allgemeinen und Speziellen Pädiatrie am Klinikum Stuttgart, besser bekannt als das Olgahospital – in Stuttgart „das Olgäle“ genannt.

Axel Enninger: Herzlich willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu einer neuen Folge von consilium, dem Pädiatrie-Podcast. Mein Gast heute ist Frau Professor Inge Kamp-Becker. Sie ist leitende Psychologin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg, und sie ist Professorin für Autismus-Spektrum-Störungen und deswegen die ideale Gesprächspartnerin, um über Autismus zu sprechen, und das tun wir heute. Herzlich willkommen!

 

Inge Kamp-Becker: Dankeschön für die Einladung. Ich freue mich.

 

Tiefgreifende Entwicklungsstörung und nicht nur „etwas komisch“

Axel Enninger: Wir haben ja im Alltag immer wieder die Situation, dass wir jemanden ein bisschen besonders finden und uns dann manchmal an die Stirn klopfen und sagen: ‚Oh Mann, ist der autistisch drauf.‘ Da gibt’s wahrscheinlich zwischen dieser dahingesagten Floskel und dem, womit Sie sich beschäftigen, ein riesiges Delta – und das müssen wir heute ein bisschen „beackern“, oder?

 

Inge Kamp-Becker: Ja, absolut, da gibt es ein großes Delta, denn das, was Sie da sagen, hat sehr wenig mit dem eigentlichen Störungsbegriff Autismus zu tun, sondern ist so eine umgangssprachliche Redewendung, die aber weit davon entfernt ist, Autismus zu beschreiben.

 

Axel Enninger: Wann sprechen Sie als Profi denn von Autismus?

 

Inge Kamp-Becker: Autismus ist ja eine neuronale Entwicklungsstörung, das heißt, das ist eine Störung, die sehr, sehr früh beginnt und mit deutlichen Beeinträchtigungen einhergeht im Bereich der sozialen Interaktion, Kommunikation und mit dem Vorliegen von repetitiven, stereotypen Verhaltensweisen. Und diese Auffälligkeiten führen dazu, dass diese Menschen eben in ihrer Fähigkeit, in eine wechselseitige Beziehung, in Interaktion zu gehen, deutlich beeinträchtigt sind. Und da sehen Sie schon die Unterschiede. Hier rede ich von „deutlich beeinträchtigt“ und nicht von: „der ist nur ein bisschen komisch oder seltsam“, sondern das ist wirklich eine Entwicklungsstörung, das heißt, sie beginnt sehr früh und führt dazu, dass in allen Lebensbereichen und in allen Situationen, in die dieser Mensch sich befindet, eben diese Auffälligkeiten bemerkbar sind, beobachtbar sind. Das ist das besondere an Autismus. Es beginnt sehr früh, und das Weitere ist, es führt zu Auffälligkeiten in allen Lebenssituationen, nicht nur in bestimmten, wie zum Beispiel bei Angststörungen. Angst hat man in bestimmten Situationen, aber nicht immer und überall, meistens zumindest. Autismus ist aber etwas, das wirklich in alle Lebensbereiche hineingeht und in diesen Lebensbereichen zu einer deutlichen Beeinträchtigung führt.

 

Axel Enninger: Jetzt reden Sie immer von Autismus. Ich habe gedacht, man muss von Autismus-Spektrum-Störung reden. Stimmt das gar nicht?

 

Inge Kamp-Becker: Doch, das stimmt schon. Wir haben gelernt, dass die Unterscheidungen, die wir da früher gemacht haben, wo wir noch verschiedene autistische Störungen unterschieden haben, dass die zumindest nach den Kriterien, die wir da angedacht hatten, dass die nicht zu finden ist, also eine Unterscheidung zum Beispiel zwischen Asperger-Syndrom und frühkindlichen Autismus. Das gibt es nicht mehr. Deswegen nennt man das heute Autismus-Spektrum-Störung, aber die Abkürzung ist einfach Autismus. Das ist sozusagen der Oberbegriff.

 

Axel Enninger: Das heißt, es beschreibt ein Kontinuum und nicht mehr einzelne Unterformen. Hab ich das jetzt richtig verstanden?

 

Inge Kamp-Becker: Richtig, genau. Früher haben wir gesagt, Asperger-Syndrom, das sind die Patienten, die keine sprachliche oder kognitive Beeinträchtigung haben, und wir merken, diese Kriterien unterscheiden die Menschen nicht von Menschen, die am Anfang eine Sprachentwicklungsverzögerung hatten, aber dann zum Beispiel gut sprechen lernen. Dieses Kriterium Sprachentwicklungsstörung oder auch kognitive Beeinträchtigung, ist nicht das Entscheidende. Wir sehen eine Autismus-Spektrum-Störung bei Menschen mit ganz unterschiedlichen Intelligenzgraden von „schwer intelligenzgemindert“ bis zu überhaupt nicht, „keine Intelligenzminderung“, und in sehr seltenen Fällen auch mit sehr guter Begabung.

 

Axel Enninger: Okay.


Inge Kamp-Becker: Also, wir sehen Menschen mit und ohne Sprachbeeinträchtigung.

 

Axel Enninger: Wir einigen uns darauf, dass wir über „Autismus“ oder „ASS“ sprechen und nicht immer Autismus-Spektrum-Störung sagen, damit wir uns verbal nicht immer verhaspeln.

 

Inge Kamp-Becker: Genau.

Modediagnose?

Axel Enninger: Ist denn das irgendwie modern geworden, dass „Autismus-Spektrum-Störung“ oder „Autismus“ diagnostiziert wird?

 

 


Inge Kamp-Becker: Ja, also, wenn Sie so nach „Modediagnose“ fragen, dann ist erst einmal die Frage: Was ist eine Modediagnose? Modediagnosen sind Diagnosen, die oft sehr unscharf definiert sind, und wo es sehr viele Menschen gibt, Störungen, die eben auch eine hohe Beachtung finden, insbesondere mediale Beachtung und wo sich dann viele Menschen wiederfinden. Da kann man sagen, das trifft insbesondere auf die Autismus-Spektrum-Störung ohne Intelligenzminderung eindeutig zu. Das ist eine Modediagnose. Das wird sehr, sehr unscharf definiert, sehr, sehr breit definiert. Es ist eine sehr, sehr medial präsente Störung. Also, Sie sehen dauernd Filme, wo vermeintlich Mensch mit Autismus dargestellt werden. Sie finden im Internet Milliarden Seiten über Autismus, und es ist in diesen Darstellungen oft sehr, sehr unscharf und undifferenziert und sehr stereotyp und einseitig dargestellt.

Mediale Aufmerksamkeit mit Licht und Schatten

Axel Enninger: Das heißt, Sie haben damit eher ein Problem? Manchmal könnte man ja auch sagen, vermehrte mediale Aufmerksamkeit ist ja manchmal auch etwas Gutes. Das ist jetzt beim Thema Autismus aus Ihrer Sicht nicht so.

 

Inge Kamp-Becker: Na ja, es hat zwei Seiten. Es hat Licht und Schatten. Die gute Seite ist, Autismus ist deutlich weniger stigmatisierend als andere psychische Erkrankungen, als zum Beispiel ADHS, als Schizophrenie, als Persönlichkeitsstörungen und so weiter. Die Familien erleben diese Diagnose als nicht so belastend. Das ist ja erst einmal eine supergute Nachricht. Der Schatten ist aber, dass diese mediale Darstellung, das haben wir uns mal in einer Studie angeguckt und haben uns 100 Internetseiten zum Thema Autismus angeguckt und gesehen, diese Darstellung ist einfach sehr, sehr unspezifisch. Die Abgrenzung zu anderen Störungen, zum Beispiel, die wird oft gar nicht dargestellt. Die Symptome von Autismus finden sich ja nicht nur bei Autismus, sondern die finden sich bei sehr vielen anderen Störungen in ganz ähnlicher Weise, und das wird eben in diesen medialen Darstellungen nicht dargestellt. Da werden Stereotypien dargestellt. Sie sind alle superbegabt, und sie haben alle eine ganz besondere Begabung, die sie ganz besonders auszeichnet, und das hat leider mit meinem Alltag relativ wenig zu.

 

Axel Enninger: Okay, also, Fluch und Segen, diese mediale Aufmerksamkeit.

 

Inge Kamp-Becker: Ja.  

Veränderungen in der Verschaltung weiter entfernter Hirnareale

Axel Enninger: Kann man erklären, was pathophysiologisch dahintersteht? Also wo hakt es da? Wo sind die Verschaltungen irgendwie schwierig?

 

Inge Kamp-Becker: Also, Autismus ist eine Erkrankung mit einem sehr hohen genetischen Anteil, und wir wissen, das ist aber eine sehr, sehr komplexe genetische Veränderung. Sie ist so komplex, dass wir sie noch nicht in aller Ausführlichkeit erfasst haben. Da werden bis über 100 Gene diskutiert, die dabei eine Rolle spielen. Das Modell ist im Moment, dass wir annehmen, und dafür gibt es wirklich gute Belege, dass dieser veränderte genetische Code zu einer andersartigen Hirnentwicklung führt, das heißt zu einer andersartigen Hirnstruktur, aber auch Hirnfunktionen, die dann wiederum sozusagen dazu führt, dass das der Aufbau, verändert ist, und dass insbesondere die Verbindung zwischen verschiedenen Hirnarealen, und zwar insbesondere von Hirnarealen, die im Gehirn relativ weit auseinanderliegen, also frontale Areale, und zum Beispiel Amygdala, dass da die Verbindung, die Konnektivität, reduziert ist, während die Verbindung von nah beieinander liegenden

 

Hirnarealen im Gegensatz eher sogar verstärkt ist. Und das führt dazu, dass eben gerade so komplexe Wahrnehmungsinhalte wie soziale Inhalte, wo man sehr, sehr unterschiedliche Hirnareale braucht, um die wahrzunehmen, zu interpretieren, einzuordnen, eine Planung zu machen, wie reagiere ich da darauf und so weiter, also wo man wirklich sehr, sehr viele unterschiedliche Areale braucht, das wird dann eben schwierig. Andere Dinge, wie zum Beispiel Gedächtnisleistungen, Lernen von Zahlenkonstellationen oder sinnlosen Dingen, das funktioniert dann sehr viel besser, weil wir dazu nur sehr lokale Bereiche im Gehirn dann aktivieren.

 

Axel Enninger: Kann man das sichtbar machen, irgendwie im funktionellen MR oder in irgendwelchen Traktoskopien oder solchen Sachen, die es da mittlerweile gibt?

 

Inge Kamp-Becker: Ja. Auf Gruppenebene ja, aber nicht auf individueller Ebene. Also, wir haben aktuell noch keinen Biomarker. Wir haben weder einen genetischen Test, den wir machen können. Selbst wenn wir sie dann ins MRT legen würden, können wir aufgrund des Hirnbildes nicht sagen, das ist Autismus oder nicht. Das ist etwas, woran die Forschung auf Hochtouren arbeitet, aber wo es noch kein zufriedenstellendes Ergebnis gibt.

Hellhörig werden bei Auffälligkeiten in Blickkontakt, Gestik, Kontaktaufnahme

Axel Enninger: Das heißt, wir müssen uns auf die Klinik verlassen.

 

Inge Kamp-Becker: Ja.

 

Axel Enninger: Da ist ja für die niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte immer die Frage, bei welchen Symptomen muss ich denn daran denken, und was sind Zeichen, wo ich sagen muss, da muss ich hellhörig werden und ich brauche jetzt einen Profi. Welche wesentlichen Punkte sind es, auf die man als Betreuer achten muss?

 

Inge Kamp-Becker: Dazu haben wir sehr vielfältige Analysen gemacht, nicht nur wir, sondern viele andere Forscher auch, und das Gute ist, dass die Autismus-Spektrum-Störung oder Autismus wirklich etwas ist, das ich beobachten kann, das ich sehen kann. Das ist nicht eine Störung des inneren Erlebens, sondern wirklich eine Störung, die sich im Verhalten sichtbar macht. Wir haben aus vielen, vielen Daten mittels KI analysiert, was sind denn wirklich die Variablen, die Autismus von anderen psychischen Erkrankungen unterscheidet. Das sind insbesondere wirklich die Dinge, die man gut sehen kann. Also ist der Blickkontakt sozial moduliert. Das heißt nicht, schaut jemand einen anderen an oder nicht, sondern nutzt diese Person das Hinschauen in das Gesicht der anderen Person, um die soziale Interaktion zu steuern und zu regulieren? Aber auch andere Verhaltensweisen, richtet die Person ihren mimischen Ausdruck an das Gegenüber. Wenn das Kind unglücklich ist, wenn es etwas nicht mag, richtet es dann seinen mimischen Ausdruck an seinen Interaktionspartner oder schaut es einfach irgendwo hin und weint oder schaut grimmig oder so. Also auch hier wieder dieses sozial Gerichtete im Blickkontakt, im mimischen Ausdruck, aber auch zum Beispiel Gestik ist ein ganz wichtiger Punkt. Nutzt diese Person Gestik, um sich seinem Gegenüber verständlich zu machen. Das ist ja ein sehr kommunikatives Verhalten, das wir nutzen können, um sozusagen in Interaktion zu gehen. Das tun Menschen mit Autismus deutlich reduzierter, eben nicht in kommunikativer Weise. Dann ist oft die Art der Kontaktaufnahme auffällig. Also, wir haben pro Altersgruppe eine Handvoll Auffälligkeiten gefunden, die man beobachten kann, und die Autismus von anderen Störungen differenziert. Daraus haben wir dann eine Art Fortbildungsveranstaltung gebaut für Kinderärzte, Hausärzte und so weiter, damit sie genau

 

lernen können, auf was muss ich achten, wo muss ich hingucken? Darum geht es, um das gute Beobachten.

 

Axel Enninger: Das ist ja eigentlich super. Dafür sind wir Kinder- und Jugendärzte geworden, um aus Dingen, die wir beobachten, Schlüsse zu ziehen, was wahrscheinlich nicht ganz einfach ist. Wie Sie gesagt haben, haben Sie ein Trainingsprogramm entwickelt. Kann man das irgendwie nachlesen? Können wir das in unsere Shownotes verlinken? Kann man sich anmelden?

 

Inge Kamp-Becker: Leider noch nicht. Wir evaluieren das gerade, ob es auch wirklich funktioniert. Ob die Leute dadurch lernen, besser zu differenzieren, wen muss ich denn an eine spezialisierte Stelle, die dann die eigentliche Diagnostik macht, überweisen oder nicht. Das untersuchen wir gerade. Das soll irgendwann öffentlich werden, aber noch ist es nicht so weit.

Altersspezifische Symptome

Axel Enninger: Dann gehen wir wieder zurück zu unseren guten klinischen Fähigkeiten. Gibt’s denn in Abhängigkeit vom Alter bestimmte Dinge, auf die ich besonders achten muss? Ich sage jetzt mal, bei einem Kindergartenkind, Schulkind, bei einem Jugendlichen, gibt es da bestimmte Dinge, wo Sie sagen: ‚Hey, Leute, da müsst ihr aufpassen!‘

 

Inge Kamp-Becker: Das sind die Dinge, die ich eben schon genannt habe, also dieses nonverbale Verhalten, Blickkontakt, gerichteter mimischen Ausdruck, Gestik. Aber bei den kleinen Kindern zum Beispiel ist ein wichtiger Punkt, auch wenn dieses Kind sich freut, teilt es dann die Freude? Bezieht es andere Personen mit ein? Will es die Aufmerksamkeit der anderen Personen zum Beispiel auf das Lenken, was es gerade Tolles gebaut hat, was es Tolles gemacht hat, ein tolles Bild, das es gemalt hat, oder versinkt es einfach in diesem Bild und malt es und es ist völlig egal, ob die anderen das gut finden oder nicht. Das sind zum Beispiel „red flags“, auf die man bei den kleinen Kindern achtet. Zeigt es geteilte Aufmerksamkeit, zeigt es Blickkontakt, wie ist der mimische Ausdruck? Wichtig ist da dann die Abgrenzung. Wir sehen immer wieder Kinder, die uns vorgestellt werden, die aber eigentlich Aufmerksamkeitsstörungen haben. Das muss man sich im Detail angucken. Aber das sind Auffälligkeiten, die in Richtung Autismus weisen könnten.

Die Diagnostik durch eine spezialisierte Stelle

Axel Enninger: Und was machen Sie dann mit solchen Kindern? Wenn jetzt da ein Kinder- und Jugendarzt hellhörig wurde und gesagt hat, ja, es kann schon sein, oder die Eltern das auch selber schildern. Relativ häufig, kann ich mir vorstellen, kommen auch die Eltern und sagen: ‚Irgendetwas ist hier besonders‘, und man wendet sich dann an einen Profi. Was machen dann die Profis?

 

Inge Kamp-Becker: Also, die Diagnostik sollte durch eine spezialisierte Stelle ausgeführt werden. Das heißt, das sind Menschen, die wirklich viel Erfahrung haben, insbesondere, weil eben die Symptomatik sehr ähnlich ist zu der von anderen psychischen Erkrankungen wie den Aufmerksamkeitsstörungen, die ich gerade schon genannt habe. Was wir dann machen: Das wichtigste Instrument ist eine standardisierte Verhaltensbeobachtung, wo wir gezielt Aufgaben durchführen, wo wir uns diese Symptome, die ich gerade genannt habe, sehr differenziert angucken. Wir machen zum Beispiel eine Aufgabe, wo wir mit dem Kind in eine spielerische Interaktion gehen, gucken, ob ich da in Kontakt mit dem Kind gehen kann, ob das Kind mich in sein Spiel mit einbezieht, ob es Spielimpulse von mir aufgreift, ob das wirklich ein wechselseitiges Spielen ist. Wir beobachten Blickkontakt, mimischen Ausdruck, Gestik. Wir machen zum Beispiel eine Aufgabe, wo das Kind auch pantomimisch etwas darstellen soll, um zu gucken, nutzt es denn dazu Gestik, oder geht es rein ins Verbale hinein? Wir gucken da dann

 

aber auch, wenn ein Kind all das verweigert und das nicht tut, dann ist es nicht Autismus, sondern das ist Verweigerung, und Verweigerung ist nicht Autismus. Das zu unterscheiden, ist aber oft gar nicht so einfach. Da muss man sehr genau hingucken. Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist natürlich, dass wir die Eltern sehr genau befragen, dass wir gucken, wie ist das Kind in verschiedenen situativen Kontexten, also zuhause, aber auch im Kindergarten oder in der Schule, wie ist es im Umgang mit fremden und bekannten Personen? Differenziert es da oder nicht, und so weiter.

 

Axel Enninger: Das heißt, das ist im Wesentlichen schon die Aufgabenstellung und dann beobachten, wie gehe ich damit um? Ein Gespräch, eine sehr ausführliche Anamnese ist also nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellen könnte: Da gibt es einen Fragebogen, der wird abgecheckt, es gibt Punkte, und dann kann ich sagen, soundso viele Punkte, das ist es oder das ist es nicht?

 

Inge Kamp-Becker: Nein, das ist es eben genau nicht. Deswegen sage ich ja auch spezialisierte Stelle, weil Sie sehr viel Erfahrung damit brauchen. Was Sie da zusätzlich natürlich noch machen, ist gerade bei den etwas älteren Kindern dann das Intelligenzniveau mittels Intelligenztest, die Sprachfähigkeiten gut einschätzen. Natürlich braucht jedes Kind auch eine gute körperlich-neurologische Abklärung, um zu gucken, kann es wirklich hören, gibt’s irgendwelche organischen Ursachen und so weiter.

 

Axel Enninger: Gibt es quasi eine organische Pflichtabklärung, die vorher stattfinden muss, bevor man Ihnen so ein Kind schicken darf, oder ergibt sich das erst im Laufe Ihrer Diagnostik?

 

Inge Kamp-Becker: Wir gucken immer, dass die Kinder pädiatrisch gut gesehen wurden. Wir gucken, ob die U-Untersuchungen alle stattgefunden haben. Aber ein Hörtest ist zum Beispiel in der Regel gerade bei den kleinen Kindern ganz wesentlich, um zu gucken, kann es denn auch wirklich hören oder reagiert es einfach nicht, weil es nichts, wirklich nichts hört? Das ist ein wichtiger Punkt. Dann ist natürlich die Frage, gibt es irgendwelche fazialen Auffälligkeiten, die zum Beispiel auf eine Alkohol-Spektrum-Störung hinweisen könnten, oder auf eine genetische syndromale Erkrankung usw. Das sind Dinge, die man vorab auf jeden Fall klären soll.

 

Axel Enninger: Wenn der Kinder- und Jugendarzt denkt, er hat alle U-Untersuchungen und da gab es keine Auffälligkeiten, dann gibt’s nichts Spezifisches, wo Sie sagen würden: ‚Das müsstet ihr aber vorher liefern, bevor ihr mir so ein Kind schickt.‘ Okay, und dann machen Sie diese Beobachtungen. Kann ein Profi wie Sie dann nach diesem ersten Gespräch sagen: Okay, das ist es, oder brauchen Sie dann noch weitere Dinge?

Verlaufsdiagnostik oft notwendig, Komorbiditäten adressieren

Inge Kamp-Becker: Also das Vertrackte ist, dass ich relativ schnell – wenn man viel Erfahrung hat relativ schnell – sagen kann, wenn es Autismus nicht ist. Dann sehe ich nichts, und wenn ich nichts sehe, dann ist es mit einer großen Wahrscheinlichkeit nicht Autismus, weil ein ganz wesentliches Merkmal von Autismus ja ist, dass es wirklich durch alle Situationen geht, und wenn es durch alle Situationen geht, dann müsste es auch bei mir etwas zu sehen geben. Wenn ich da gar nichts sehe, dann kann ich nach kurzer Zeit schon sagen: ‚Nein, das geht nicht in Richtung Autismus.‘ Geht es in Richtung Autismus, dann wird es viel komplizierter, weil dann muss ich ja noch überlegen und überprüfen, könnte es nicht eine Aufmerksamkeitsstörung sein, wenn ich da eine motorische Unruhe sehe, Defizite in der Aufmerksamkeit, wenn ich eine erhöhte Impulsivität sehe, dann muss ich unter Umständen erst einmal diese Symptomatik behandeln und dann noch einmal Diagnostik machen, um zu gucken, sehe ich denn jetzt immer noch Auffälligkeiten, wenn ich eine hohe Ängstlichkeit habe oder sehr viel oppositionelles

 

Verhalten, dann muss ich auch das erstmal behandeln und die Eltern gut instruieren, wie geht man damit um und so weiter, und dann im Verlauf noch mal Diagnostik machen. Also, ich kann nicht so schnell sagen: ‚Ja, das ist Autismus‘ wie ich sagen kann: ‚Nein, das ist kein Autismus‘, sondern bei Autismus ist da oft auch eine Verlaufsdiagnostik notwendig, also dass ich immer wieder drauf schaue, überlege, okay, was muss ich jetzt ausschließen, muss ich noch etwas anderes behandeln? Eine andere Symptomatik, sei es Aufmerksamkeitsstörung, oppositionelles Verhalten, Ängstlichkeit, da muss ich dann behandeln und dann wieder hingucken. Das dauert dann länger.

Sprache und Vorläuferfunktionen von Sprache fördern

Axel Enninger: Okay, aber es gibt durchaus auch die Patienten, wo Sie sich relativ klar festlegen und sagen: ‚Ja, dieses ist ein Autismus.‘ Wie vermitteln Sie das den Eltern, und was empfehlen Sie dann? Die große Frage der Eltern ist ja: ‚Was machen wir denn jetzt?‘

 

Inge Kamp-Becker: Das ist mit der wichtigste Punkt. Diese Fälle gibt es, die sehr eindeutigen, die sind nur leider eher die Minderheit. Die Mehrzahl der Fälle, die uns vorgestellt wird, sind diese sehr komplexen Fälle. Aber, wenn wir es wissen, dann ist zentraler Bestandteil eine Beratung. Was muss jetzt passieren? Da ist es sehr abhängig davon, wie die Symptomatik aussieht. Wenn die Kinder älter sind, ist es einfach so, dass 80 % dieser Patienten eben nicht nur Autismus haben, sondern zusätzlich zum Beispiel Aufmerksamkeitsstörung oder eine Angstsymptomatik usw. Das heißt, da ist ganz wichtig, diese eher komorbide Symptomatik auch mit im Fokus der Behandlung zu haben. Wir wissen, dass, wenn man zusätzlich noch andere Störungen hat, verstärkt es die Autismussymptomatik und macht das Outcome reduzierter. Das heißt, da müssen wir die Komorbidität auch gut im Fokus haben und behandeln. Bei den jüngeren Kindern geht’s vor allen Dingen darum, die sprachlichen Fähigkeiten gut zu fördern, weil Sprache ein ganz wichtiger prädiktiver Faktor ist. Bei den ganz jungen Kindern, und wir sehen Kinder so ab 1 ½ bis 2 Jahren, wenn wir da Symptome sehen, ist ganz wichtig, Sprachförderung, Sprachanbahnung und da vor allen Dingen die Vorläuferfunktionen von Sprache zu fördern, weil die eben bei Kindern mit Autismus oft nicht gegeben sind.

 

Axel Enninger: Was meinen Sie mit Vorläuferfunktionen von Sprache?

 

Inge Kamp-Becker: Vorläuferfunktionen sind 1. Blickkontakt. Wenn ich den anderen nicht angucke, dann wird Sprechenlernen wahnsinnig schwierig. Das heißt, ich muss die Eltern instruieren, dass sie nicht zu schnell reagieren, sondern erst mal versuchen, dem Kind beizubringen: ‚Wenn du etwas möchtest, dann musst du mich auch anschauen‘, und sich auch in den Blick des Kindes zu bringen. Also, Blickkontakt muss geübt werden. Das 2. ist, dass das Kind lernt, gemeinsame Aufmerksamkeit herzustellen, also dass wir uns gemeinsam auf etwas einigen: Das ist jetzt das Spannende. Also ein Objekt, beim Baby die Rassel, die man dem Säugling hinhält. Das Baby guckt die Rassel an und guckt dann die Mutter an. So kommuniziert der Säugling schon, das interessiert uns gerade. Also einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herzustellen. Und die dritte Vorläuferfunktion wäre dann die Imitation, also dass das Kind wirklich lernt: ‚Mach das nach, was ich gerade tue.‘ Das kann ich auf der Handlungsebene sehr viel besser trainieren. Aber das Ziel ist ja, dass das Kind lernt: ‚Mach meine Geräusche, die ich mache, nach. Sag: Mama.‘ Dann, wenn das Kind es gut lernt, schaut es die Mutter an, hat den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und lernt ‚Mama‘ zu sagen. Der nächste Punkt wäre dann eben gemeinsames, phantasievolles Spielen, weil das in Richtung Abstraktionsfähigkeiten geht.

 

 

 

Axel Enninger: Das heißt Sprachförderung eben auch dadurch, dass man sich bei Kindern, die das nicht, sag ich mal, quasi automatisch lernen, schon Zeit nimmt und sagt: ‚Das üben wir jetzt gemeinsam.‘ Beziehungsweise es gibt bestimmte Dinge, die hat Frau Kamp-Becker uns beigebracht, und da sollten wahrscheinlich auch alle Kontaktpersonen möglichst instruiert werden, oder?

 

Inge Kamp-Becker: Ja, genau das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Die Therapie heißt bei diesen jungen Kindern immer, dass die Eltern sehr intensiv mit einbezogen werden und auch das Umfeld. Das heißt, die Regel ist sozusagen, in je mehr Situationen dieses Verhalten geübt wird, desto wahrscheinlicher ist, dass das Kind es lernt und auch lernt, es in allen Situationen wirklich gut anzuwenden, und das ist das Ziel. Das heißt, eine Therapie kann nie nur mit dem Kind sein, sondern muss immer Eltern als Multiplikatoren oder auch den Kindergarten, die Frühförderung, also alle Personen mit einbeziehen, mit denen das Kind irgendwie in Kontakt ist.

 

Axel Enninger: Und wenn ich mir jetzt so den Alltag eines Kindes vorstelle, sie gehen erst in den Kindergarten, dann gehen sie in die Schule. Da ist ja ganz viel soziale Interaktion, und das könnte schwierig werden. Wahrscheinlich wird es erst mal schwierig, wenn ich da nicht geübt bin und nicht in der Lage bin, die Signale meiner Umgebung gut zu lesen. Wie trainiere ich das denn?

Lernen, wie Interaktion geht und dass sie Freude macht

Inge Kamp-Becker: Im Schulalter geht’s dann wirklich vermehrt – wenn dann auch Sprache hoffentlich vorhanden ist – natürlich in diese sozialen Interaktionen, und das machen wir über spielerische Aktivitäten. Das heißt, wir berücksichtigen, was interessiert das Kind, was macht es gerne, bringen uns dann mit in das Spiel ein und versuchen, dem Kind zu vermitteln, ein interaktives, gemeinsames Spielen macht Spaß. Das ist das, was Freude bringt und uns beide dann auch weiterbringt. So versuchen wir, dem Kind diese fehlende Wechselseitigkeit beizubringen. Ganz wichtig ist dabei natürlich, die Interessen des Kindes mitzuberücksichtigen, sich damit einzuklinken und das dann aber weiterzuführen.

 

Axel Enninger: Das heißt, das Kind muss sozusagen lernen. Da gibt’s durch Interaktionen gibt es einen gewissen Mehrwert.

 

Inge Kamp-Becker: Richtig, genau, und das ist interessant und spannend. Das macht Freude, wenn wir das gemeinsam weiterbringen. Diese Kinder können sich oft gut alleine beschäftigen und beschäftigen sich dann stundenlang mit irgendeiner Tätigkeit, mit irgendeinem Interesse, das sie haben, und da kann man sich dann mit einklinken und versuchen, das in etwas Interaktives zu gestalten, also lernen, sich abzuwechseln, zum Beispiel. Wenn wir etwas bauen, dass nicht nur das Kind baut, sondern der andere sich mit einbringt, und dann wird es noch toller gebaut.

 

Axel Enninger: Das verstehe ich, Mehrwert durch Interaktion. Aber dann gibt es ja in der Schule auf der anderen Seite etwas, das heißt, ich muss lernen, mich an Regeln anzupassen. Es gibt einfach bestimmte Verhaltensweisen, die werden von mir erwartet als Schüler, und bestimmte, die will hier keiner sehen. Wie macht man das denn?

 

 

 

 

 

Auch kleine Kinder profitieren von Transparenz, Regeln und Erziehung

Inge Kamp-Becker: Das fängt nicht erst im Schulalter an. Das ist schon mal ein erster wichtiger Punkt. Eine ganz wichtige Grundregel ist, auch Kinder mit Autismus, auch kleine Kinder mit Autismus, müssen erzogen werden und müssen lernen, sich an Regeln zu halten, und dass es Konsequenzen hat, wenn man sich nicht an Regeln hält. Eigentlich ist es so, dass Kinder mit Autismus Regeln lernen. Sie lieben Vorhersagbarkeit und große Transparenz in dieser Hinsicht, und sie lernen auch, wenn die Dinge klar, reguliert und regelhaft sind, und von daher ist es in der Schule dann wichtig, diese Regeln wirklich klar und transparent zu machen, und dann müssen die aber auch gelten. Die Kinder mit Autismus, haben oft eher Schwierigkeiten, wenn dann zum Beispiel andere sich nicht an Regeln halten und das keine Konsequenz hat. Das ist schwierig, weil eigentlich darf das ja nicht sein: eine Regel ist eine Regel! Da kann man gut mit diesen Regeln arbeiten, indem man das möglichst auch zum Beispiel noch visualisiert, als Regeln klar festlegt, für alle klar und transparent macht und auch klarmacht, was passiert, wenn man sich nicht daran hält. Und das muss dann für alle gelten .

 

Axel Enninger: Okay, das heißt, mit dem Aufstellen von Regeln tut man ihnen eher Gefallen.

 

Inge Kamp-Becker: Ja.

 

Axel Enninger: Indem man sozusagen Struktur schafft.

 

Inge Kamp-Becker: Wenn es nicht zu viele sind, ja. Die Regeln müssen natürlich immer entwicklungsadäquat sein, das heißt, nicht zu viele, nicht zu komplex und gut nachvollziehbar, und, ja, dann sind es eher Vorteile. Ein witziges Beispiel ist hier mehr im Erwachsenenalter, das mir gerade einfällt. Ich habe viele Patienten, die mittlerweile erwachsen sind, und sie lernen zum Beispiel durchaus Autofahren, auch wenn das sehr komplex ist und manchmal etwas länger dauert. Aber die können Autofahren lernen. Es ist kein Hinderungsgrund, aber für sie ist zum Beispiel ein Problem, dass sich viele Menschen nicht an die Verkehrsregeln halten. Das ist dann schwierig. Nicht das Autofahren, sondern die Katastrophe ist, wenn jemand anders bei Gelb über die Ampel fährt. Das geht nicht. Bei Gelb darf man nicht fahren, und das ist dann ein Problem und macht riesigen Stress.

 

Axel Enninger: Das verstehe ich. Jetzt drehen wir das Ganze nochmal um. Was natürlich auch in Schule und Kindergarten oder auch, wenn wir an junge Erwachsene denken, quasi ein regelloses Miteinanderumgehen ist: Man lernt sich kennen, und man fängt an zu plaudern, ein bisschen unsicher und so. Das stelle ich mir besonders schwierig vor für Menschen mit Autismus.

Soziales Kompetenztraining

Inge Kamp-Becker: Ja, also Smalltalk ist eins der Dinge, die wir in dieser Diagnostik dann mit den Patienten machen, um zu gucken, ob das geht. Das geht in der Regel eben nicht, denn dafür gibt es keine klaren Regeln. Mit den älteren Kindern sind dann ja wirklich soziale Kompetenztrainings sinnvoll, wo genau das geübt wird: Worüber unterhält man sich denn, was sind denn relevante Themen, und was muss ich dabei berücksichtigen? Das muss man diesen Menschen wirklich erklären und mit ihnen üben. Im Rollenspiel wird dann geübt, wie frag ich meinen Mitschüler? Ihn anzurufen und nach Hausaufgaben zu fragen, nicht anzurufen und zu sagen: ‚Was haben wir auf?‘, sondern vielleicht erst zu sagen: ‚Hallo, hier bin ich, wie geht es dir?‘, aber dann auch nicht völlig abzuschweifen, aber eine bisschen Smalltalk vielleicht zu

 

 

machen. Das wird geübt im Rollenspiel, weil das für diese Patienten wirklich sehr, sehr schwierig ist.

 

Axel Enninger: Das kann man üben, und ich spoiler jetzt vielleicht so ein bisschen. Es gibt so eine, so eine US-amerikanische Fernsehserie, die lief, glaube ich, auf Netflix. Davon habe ich ein paar Folgen von gesehen, sie heißt „Love in the Spectrum“. Da werden diese Menschen, um Kontakt zu anderen aufzunehmen, tatsächlich richtig trainiert. Wie mache ich denn Smalltalk? Wie mache ich ein Kennenlernen? Wie bringe ich es hin, dass andere Menschen Interesse an mir haben? Ist das übertrieben, oder würden Sie eigentlich sagen, an der Grundidee ist schon etwas Vernünftiges dran?

 

Inge Kamp-Becker: Also, ich kenne die Sendung nicht, ich gucke nicht mehr solche Sendungen, weil ich mich immer so aufrege über die Darstellungen da. Diese Sendung kenne ich jetzt nicht, aber die Grundidee stimmt, so machen wir das. Das Verrückte ist aber, dass man sich da oft wahnsinnig eindenken muss in die Menschen mit Autismus, weil das, was sie ja nicht können, ist diese Perspektivenübernahme. Also, sie haben große Probleme, sich in die andere Person hineinzudenken. Worüber redet denn die andere jetzt gerade gerne, oder was bedeutet das, wenn sie jetzt die Augenbrauen so hochzieht und mich gar nicht mehr anguckt, sondern auf die Uhr guckt und so weiter? Also, sich in andere Personen hineinversetzen, sich vorzustellen, was denkt der andere, was fühlt der andere, was meint der andere gerade, das ist ein großes Defizit dieser Menschen, und worauf muss ich da achten? Ja, das wird dann sozusagen wirklich geübt, und da braucht es in diesem Sinne einen Coach. Ja!

 

Axel Enninger: Und wenn sie es geübt haben, erkennen sie denn – bei den Regeln hatten wir das vorhin – erkennen sie denn da auch tatsächlich einen Mehrwert, oder bleibt es in dieser Geschichte: „Na ja, das habe ich gelernt, und wenn die Frau Kamp-Becker ihre Augenbrauen hochzieht, dann wird es irgendwie komisch.“ Ist das gut für sie oder bleibt es in diesem Stadium „Ich muss es lernen.“

 

Inge Kamp-Becker: Es wird besser. Also, wir haben Patienten, wo man oft, wenn sie lange trainiert wurden, sieht man es dann nicht mehr so. Aber wenn man gut hinguckt, merkt man immer noch, dass es nicht wirklich gelebt ist, sondern gelernt ist. Da fehlt immer noch eine gewisse Flexibilität. Das bleibt immer oft noch etwas rigide und stereotyp, aber manche lernen es relativ gut. Aber es gibt dann immer wieder Situationen, wo sie hilflos sind.

 

Axel Enninger: Und jetzt nochmal, wird es denn sozusagen „eingebaut“ oder bleibt es in dieser Phase „Ich habe es erlernt, und ich mache das jetzt wie ein perfekter Schüler.“

 

Inge Kamp-Becker: Das ist unterschiedlich, also das kommt auf die Patienten an. Das ist individuell sehr unterschiedlich, aber bei vielen bleibt es auf diesem gelernten Niveau. Also ein Beispiel ist hier ein Patient, dem wir erklärt haben, er hat Autismus. Er hat das weit von sich gewiesen, weil viele, gerade junge Menschen mit Autismus, sagen: „Nein, ich will eigentlich normal sein, ich will so sein wie die anderen, ich will nicht anders sein.“ Der Vater hat dann als Beispiel gebracht: „Wenn ich nach Hause komme, begrüßt du mich gar nicht, du merkst es gar nicht. Erst, wenn du etwas von mir willst, dann kommst du.“ Dann hat der Patient gesagt: „Ja, aber wieso, was soll ich tun?“ Dann hat er gesagt: „Naja, ich würde schon erwarten, dass du mich erst mal begrüßt.“ Dann ist der Patient eine ganze Zeit lang erst einmal stereotyp, wenn der Vater die Wohnungstür geöffnet hat, hingekommen und hat gesagt: „Guten Tag, Vater, wie war dein Tag, hattest du Erfolg heute in der Arbeit? Schön, dass du wieder da bist.“ Aber immer stereotyp dasselbe. Da braucht es viel Lernen und viel Anwendung, aber dann können viele das,

 

aber sie bleiben so ein bisschen… Man sieht es immer noch, dass es gelernt ist. Aber man kann Flexibilität ja durchaus auch erlernen, und das ist das, was man dann in den Therapien macht. Nur auf alle Situationen sind sie dann eben nicht vorbereitet. Ein anderes Beispiel ist hier ein Patient, der in der Therapie im Rollenspiel immer wieder geübt hatte, wie geht er auf andere Mitschüler zu, und wie macht er Kontakt. Er wollte gerne ein Mädchen, an dem er Interesse hatte, ansprechen, und das haben sie dann im Rollenspiel geübt und geübt, und die Therapeutin hatte den Eindruck, okay, sie haben‘s jetzt wirklich, sie haben sich verschiedene Skripte zurechtgelegt, auch verschiedene Varianten wie sie reagiert, durchgespielt, und die Therapeutin hatte die Idee: ‚Okay, ich habe jetzt an alles gedacht, jetzt soll er das mal ausprobieren.‘ Dann ist der Junge in die Schule gegangen, kam in die nächste Therapiestunde und hat gesagt: „Das hat überhaupt nicht geklappt.“ Dann hat die Therapeutin nachgefragt, was war denn da – und was war? Sie hatten eigentlich alles besprochen, und sie hatten auch besprochen, er soll dieses Mädchen ansprechen in der Situation, wo sie eher nicht gerade in der Gruppe ist. Ja, und was hatte der Patient gemacht? Er fand, die Situation, wo er das Mädchen alleine erreicht, die beste Situation ist – auf der Damentoilette, was das Mädchen da natürlich nicht so witzig fand, weil er ihr wirklich auf die Toilette nachgegangen ist und hat dann sein Skript abgespult: „Hallo, wie geht’s dir und hättest du vielleicht…“ und so weiter. Aber das war nicht ganz gelungen. Also, das Leben ist eben so komplex, das kann man nicht alles einüben. Da braucht es eben sehr viele Hirnareale. Viel Flexibilität.

 

Axel Enninger: Die Therapie steht und fällt mit diesem Training, Verhaltenstraining, Einüben von bestimmten Dingen. Jetzt müssen wir einmal kurz eine Klammer aufmachen zum Thema „alternative Therapien“. Ich als Kinder-Gastroenterologe bin immer wieder konfrontiert mit schrägen Diäten. Die gibt es ja gerade beim Thema Autismus auch, oder?

Alternative Therapien: nichts, was zu empfehlen wäre

Inge Kamp-Becker: Ja, ja, extrem viel. Wir haben auch eine Befragung dazu gemacht und haben Eltern gefragt: „Wären Sie bereit, oder haben Sie schon alternativmedizinische Ansätze ausprobiert?“ Die Mehrzahl ist bereit oder hat schon ausprobiert. Von Diäten, über… also alles Mögliche, Homöopathie, biomedizinische Ansätze dubiosester Art, wildeste Blutanalysen und so weiter, die da gemacht werden. Von diesen Sachen, das wissen wir mittlerweile, ist wenig bis gar nichts zu halten. Ja, wenn es eine Therapie gäbe, und das versprechen diese Anbieter oft, dass sie Autismus heilen könnten… Ich sage den Eltern immer, wenn es diesen Ansatz gäbe, dann hätten die Krankenkassen schon längst gesagt, das zahlen wir, weil Autismus eine sehr, sehr kostenintensive Erkrankung ist, weil eben gerade bei den Menschen, die auch kognitiv beeinträchtigt sind, wirklich ein Leben lang eine intensive Unterstützung notwendig ist.

 

Axel Enninger: Sehr gut, so ähnlich antworte ich auch immer, wenn ich zu alternativmedizinischen Methoden bei der Behandlung von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen gefragt werde. Da sage ich das auch immer. Da sage ich: ‚Wir sind ja auch keine Trottel. Wenn wir wüssten, dass die Pflanze XYZ den Durchbruch bringen würde, würden wir die natürlich auch einsetzen.‘ Vielleicht machen wir das nochmal mit Ausrufezeichen. Diäten helfen nicht bei Autismus, oder?

 

Inge Kamp-Becker: Nein, es gibt keine Diät, die die Kernsymptomatik von Autismus in irgendeiner Weise beeinflusst. Solche Diäten sind nicht bekannt. Was im Moment wieder wie bei vielen Erkrankungen erforscht wird, sind natürlich mikrobiotische Sachen und so weiter. Das muss aber erforscht werden, und da sind wir bei keiner Sache dabei, dass wir dafür irgendeine Empfehlung aussprechen können. Das muss erforscht werden, das ist auch wichtig, aber es gibt da noch keine Empfehlung.

 

Axel Enninger: Sehr gut, dann machen wir diese Klammer jetzt wieder zu und kommen wieder zurück zum Alltag. Was sind denn aus Ihrer Sicht Dinge, die Menschen, die Kontakt zu Betroffenen von Autismus haben, berücksichtigen sollten? Thema: Wie gehe ich mit ihnen um? Körperkontakt, Sprache, solche Sachen. Gibt es da Sachen, wo Sie sagen würde: ‚Hey, darauf solltet ihr achten!‘

 

Grundregeln im Umgang, klare, freundliche Ansage

Inge Kamp-Becker: Ja, da gibt es durchaus einige Grundregeln, sag ich mal. Ganz wichtig ist, und da habe ich viel, viel gelernt von meinen Patienten: eine klare und eindeutige Sprache, also in seinen sprachlichen Äußerungen möglichst klar sein, weniger Verwendung von Ironie, Sarkasmus und so weiter, weil das eben sehr viel Perspektivübernahme erfordern würde, das zu verstehen. Die Patienten brauchen auch eine hohe Vorhersagbarkeit, das heißt, Körperkontakt geht, aber nicht überraschend zum Beispiel, sondern wenn, dann mit Ankündigung – bei einigen, nicht bei allen. Bei manchen ist es auch schwieriger. Das sind eigentlich die allerwichtigsten Regeln: Vorhersagbarkeit, eine klare Sprache, aber auch eine klare Struktur im Vorgehen, also den Patienten klar sagen: ‚Das habe ich jetzt vor, das und das, so wird das hier ablaufen, das ist ungefähr die Zeit, die wir brauchen.‘ Aber Vorsicht, keine genauen Zeiten sagen, weil dann halten die Patienten sich auch daran, sondern zu sagen: ‚Es wird zwischen einer und zwei Stunden dauern.‘ So eine Vorhersagbarkeit und Transparenz herstellen und in der Sprache sehr eindeutig sein und möglichst komplexe emotionale Sprache vermeiden. Appellieren ist auch schwierig zu verstehen. Eine Mutter hat mir mal gesagt: ‚Bei uns geht es manchmal ein bisschen zu wie auf einem Kasernenhof. Ich weiß, wenn ich klar sage: Mach das, dann versteht er mich, dann macht er das auch. Aber wenn ich sage: Würdest du vielleicht bitte, und ich würde mich jetzt sehr freuen, wenn du… dann wird es sehr schwierig.‘ Wie es bei anderen Kindern ja durchaus auch der Fall ist.

 

Axel Enninger: Genau das kann ich, zumindest aus der Perspektive des jungen Großvaters, sagen: Manchmal ist eine klare Ansage durchaus sinnvoll und hilfreich, und der Wunsch an den Vierjährigen, sich jetzt freiwillig Blut abnehmen zu lassen, ist nicht immer sinnvoll als Wunsch zu äußern.

 

Inge Kamp-Becker: Ja. Und auch klare Ansagen kann man ja sehr freundlich gestalten.

 

Das Störungsbild wird sich nicht „auswachsen“

Axel Enninger: Okay, also noch mal klare Ansagen, strukturiert, Ironie vermeiden, Körperkontakt ankündigen als die von Ihnen empfohlenen Verhaltensmaßnahmen. Okay. Wird es denn besser im Laufe der Zeit? Wenn ich eine Autismuserkrankung habe, kann man sagen, das wächst sich aus oder wie ist die Perspektive?

 

Inge Kamp-Becker: Also auswachsen? Nein. Das kann man schon mal ganz klar sagen. Die Perspektive ist sehr, sehr unterschiedlich. Auch die Verläufe, wie auch die Störung selber, sind wahnsinnig heterogen. Wir wissen, dass ganz wichtige, prognostische Faktoren einmal die Sprache und die kognitiven Fähigkeiten sind. Lernt das Kind nicht sprechen und zeigt es eine Intelligenzminderung, dann ist die Prognose deutlich schlechter, als wenn es sprechen lernt und keine deutliche Intelligenzminderung aufweist. Aber auch bei denen ohne Intelligenzminderung ist die Frage hier wieder der Komorbiditäten. Also, wenn zusätzlich eine Aufmerksamkeitsstörung vorliegt, wenn zusätzlich eine Angststörung vorliegt oder eine oppositionelle Störung, dann hat das erheblichen Einfluss, und wir sehen hier wirklich so einen kumulativen Effekt. Das heißt, dann wird es noch mehr, noch mehr, noch mehr. Auch die elterliche Belastung wird mehr, aber auch das Outcome ist dann deutlich schlechter. Da muss man früh auch gezielt diese komorbide Symptomatik wirklich behandeln. Wir haben mittlerweile gute Methoden. Wir bringen mittlerweile viel mehr Kinder zum Beispiel zum Sprechen als noch vor 20, 30 Jahren, weil wir eben sehr gezielte Interventionen haben, die diese Vorläuferfunktionen von Sprache adressieren. Wir haben viel mehr verstanden, was ist Autismus, und können da gezielter behandeln. Das ist gut. Es gibt einen kleinen Anteil von Patienten, wo man wirklich sagen kann, als Erwachsener dann irgendwann, da sieht man es nicht mehr. Sie haben ein relativ gutes Funktionsniveau, wenngleich sie oft zum Beispiel nicht entsprechend ihrer kognitiven Begabung eine Beschäftigung finden. Ja, aber wir haben trotzdem ein relativ gutes Funktionsniveau, sprich die Selbstständigkeit, eine Beschäftigung, ist möglich und so weiter.

 

 

Beruflich Fuß fassen

Axel Enninger: Aber das ist vielleicht noch ein guter Punkt. Thema Beschäftigung. Gibt es aus Ihrer Sicht Dinge, Berufsfelder, in denen es positiv ist, sich mit einem Autismus zu tummeln, also Stichwort, müssen sie alle irgendwie die IT-Spezialisten werden? Wahrscheinlich sollten sie nicht Psychologe oder Sozialarbeiter werden, aber trotzdem, gibt es da aus Ihrer Sicht Empfehlungen?


Inge Kamp-Becker: Mhm also, dieses, dass es alles IT-Nerds sind, ist auch so ein Stereotyp aus den Medien. Das sehe ich im Alltag gar nicht so. Ja, manche schon, aber eigentlich von der Verteilung her, so wie ich das bei anderen Patientengruppen auch sehe, wenngleich natürlich man sagen muss, Computersprache ist zum Beispiel etwas sehr Regelbasiertes. Ja, das ist eine Systematik, die ich vielleicht anwenden kann. Aber auch in dem Beruf habe ich schon Patienten scheitern sehen. Es gibt keinen Beruf, wo nicht hohe Flexibilität, auch soziale Kompetenzen durchaus einfach erforderlich sind, die dann bei diesen Patienten eben auch wieder ein Defizit darstellen und von daher schwierig sind. Also, es ist so, wie sie sagen, Berufe, die hohe soziale, hohe empathische Fähigkeiten verlangen, das ist schwierig, aus meiner Sicht. Aber Berufe, die eine hohe Regelhaftigkeit haben, die, die diese Stärken, die diese Patienten haben, also zum Beispiel eine hohe Detailwahrnehmung, also kleine Details wahrzunehmen in einem komplexen Bild. Das können manche sehr gut, das kann man dann nutzen. Was wir natürlich immer versuchen, ist, die besonderen Interessen, die ja manche haben, dann zu nutzen. Das geht aber nur, wenn diese Patienten wirklich gelernt haben, da flexibel zu sein. Also, Beispiel ist hier, ich habe einen Patienten, der kann wirklich wunderbar und sehr detailgetreu zeichnen, aber wir haben versucht, ihn in eine technisch-zeichnerische Ausbildung zu bringen, und das ging nicht, weil er nur ganz bestimmte Dinge malt, aber nicht das, was von ihm verlangt wird. Das heißt, die Flexibilität war hier wieder das Thema, dass es sehr begrenzt hat. Von daher muss man es im Alltag sehr üben. Ein weiteres wichtiges Thema ist, dass viele Patienten, auch die mit normalen kognitiven Begabungen, ihre kognitive Begabung nicht in den Alltag bringen. Das heißt, die adaptiven Fähigkeiten sind sehr gering, und das braucht man eben in jedem Job auch.

 

Axel Enninger: Vielen Dank, Frau Kamp-Becker. Es gibt ein Standardelement in diesem Podcast, und dieses Standardelement heißt Dos & Don’ts. Dinge, die Sie gerne positiv vermitteln möchten, und Dinge, von denen Sie sagen würden: ‚Bitte, Leute, lasst es sein und macht es nicht mehr!‘ Die Reihenfolge, dürfen Sie entscheiden.

 

Internet hilft wenig, nicht auf die Störung reduzieren, individuelles Störungsbild durch spezialisierte Diagnostik, evidenzbasierte Therapien

Inge Kamp-Becker: Also fange ich mit den Donts an, damit wir mit den Dos aufhören können. Bei den Donts würde ich sagen, informieren Sie sich nicht im Internet über Autismus. Das ist leider noch keine gute Quelle für Autismus. Autismus ist eine sehr komplexe Erkrankung. Reduzieren Sie einen Menschen nicht auf Autismus. Das ist ein Stereotyp, mit dem wir keinem Menschen gerecht werden, den ich kenne, der eine Autismus-Spektrum-Störung hat, sondern schauen Sie genau hin. Wenn wir Patienten behandeln, brauchen wir nicht das Label, sondern wir brauchen ein individuelles Störungsmodell, das viele Facetten hat und bei dem Autismus auch eine Rolle spielt. Also reduzieren Sie nicht alles auf‘s Internet. Das finde ich wichtig. Der nächste Don’t ist: Es gibt evidenzbasierte Therapien, aber es gibt keine kausalen Therapien. Vertrauen Sie da nicht auf diese Schreier, die schreien: ‚Wir können das mit irgendwelchen alternativmedizinischen Dingen behandeln.‘ Die Dos wären: Es gibt effiziente Therapien, dazu braucht es aber erst einmal eine spezialisierte Diagnostik. Dazu müssen wir genau hinschauen. Autismus sieht man. Das ist eine Störung, wo man wirklich durch Beobachtung viel erreichen kann, und Autismus hat eben viele Facetten, die wir sowohl in der Diagnostik als auch in der Behandlung berücksichtigen müssen.

 

Axel Enninger: Super, vielen herzlichen Dank! Für die Zuhörerinnen und Zuhörer werden wir wie immer die wichtigsten Leitlinien und Informationen und sinnvolle Internetadressen in den Shownotes verlinken. Frau Kamp-Becker, Ihnen danke ich ganz herzlich, dass Sie heute hier unser Gast waren, und Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, danke ich fürs Zuhören. Freue mich, wenn Sie Bewertungen dalassen, positive Bewertungen dalassen, freue mich aber auch, wenn Sie uns neue Themenvorschläge schicken. Bleiben Sie uns gewogen, und wir hören uns!

Sprecherin: Das war consilium, der Pädiatrie-Podcast. Vielen Dank, dass Sie reingehört haben. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen und dass Sie das nächste Mal wieder dabei sind. Bitte bewerten Sie diesen Podcast und vor allem empfehlen Sie ihn Ihren Kollegen. Schreiben Sie uns gerne bei Anmerkung und Rückmeldung an die E-Mail-Adresse consilium@infectopharm.com. Die E-Mail-Adresse finden Sie auch noch in den Shownotes. Vielen Dank fürs Zuhören und bis zur nächsten Folge!

Ihr Team von InfectoPharm